Unter deinem Stern
überlegte. Welchen Grund konnte sie haben, halluzinieren zu wollen?
»Schauen Sie tief in sich hinein, und prüfen Sie sorgfältig, was Sie finden.« Sie hatte aber keine Lust, tief in sich hineinzuschauen. Sie fürchtete sich immer noch viel zu sehr vor dem, was sie dort finden könnte, und noch mehr fürchtete sie, dass sich nichts als ein gähnender Abgrund vor ihr auftun würde.
Wahrscheinlich war das die Erklärung dafür, dass sie sich mehr MGM-Musicals ansah als je zuvor. Ihre übliche Dosis von einem pro Woche hatte sich auf sieben erhöht. Ein Film pro Tag – nach der Arbeit bei einer großen Tasse heißer Schokolade. Gab es eine bessere Kombination, um es mit der Welt aufzunehmen, als Gene Kelly und Cadbury’s? Sobald sie den Löwen brüllen hörte, glitt sie in eine andere Welt hinüber, eine Welt aus Farben und Musik, aus Liebe und Lachen. Eine Welt voller Figuren, die ihr so vertraut waren, dass sie ihr wie Freunde erschienen. Es interessierte sie nicht die Bohne, was Dr. Lynton über Barrieren und Blockaden erzählte. Ihre Musicals taten ihr tausendmal besser als all die Selbsthilfebücher, die Freunde und Therapeuten ihr in die Hand gedrückt hatten.
Seit sie denken konnte, hatten Musicals ihr geholfen, schlimme Zeiten zu überstehen. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie als Teenager an den Wochenenden in ihrem Zimmer in einem Nest aus weichen Kissen auf dem Boden gehockt hatte, die Vorhänge zum Schutz gegen das nasskalte Wetter in Whitby fest zugezogen, und wie sie in Filme mit Deanna Durbin, Judy Garland, Gene Kelly und Doris Day eingetaucht war. Es war die beste Methode gewesen, um sich vor ihrer Mutter zu schützen, sich vor langweiligen Hausaufgaben zu drücken und später vor den Jungs in Sicherheit zu bringen. June Allyson schnauzte sie nie an, wenn sie die Küche nicht aufgeräumt hatte, Marilyn Monroe bestrafte sie nie, wenn sie ihre Hausaufgaben nicht gemacht hatte, und Gene Kelly versetzte sie nie.
Es hatte ganz harmlos angefangen, sich aber schon bald zur Sucht entwickelt. Claudie hatte jede Woche in der Fernsehzeitschrift ihre Lieblingsfilme mit einem dicken roten Stift eingekringelt und war jedes Mal untröstlich gewesen, wenn einer wegen irgendeiner Sportübertragung ausgefallen war. Über die Jahre hatte sie manche Filme so oft gesehen, dass sie sie zum Teil auswendig kannte, und das war überhaupt das Allerbeste daran. Es hatte etwas unglaublich Tröstliches zu wissen, was als Nächstes passieren würde, die Gewissheit zu haben, dass gleich ein Happy End kommen würde, dass es trotz Tränen und Herzschmerz am Ende nur leuchtende Augen und ein großes Finale geben würde, bevor der Abspann begann.
Wie sollte sie die magische Wirkung der Musicals erklären? Sie wusste nur, dass sie ohne die Filme nicht leben konnte. Die Stars waren ihre Freunde, und die Szenerien waren wie Ferienorte, in die man jedes Jahr zurückkehrt. Es gab nichts Besseres als ein Musical. Einmal hatte sie ein anderes Genre ausprobiert, nur um sich zu vergewissern, dass sie nichts verpasste. Das war das grauenhafte Wochenende gewesen, als sie sich nichts als Krimis und Westernfilme angesehen hatte. Bei dem Gedanken daran schüttelte Claudie den Kopf. Diese Filme hatten sie in keiner Weise berührt. Die Figuren darin hatten sie nicht die Bohne interessiert, die Handlungsschauplätze waren scheußlich gewesen, und es kam kein einziges Lied darin vor! Wie sollte ein Film die Herzen gewinnen ohne einen Song?
Auf die Gefahr hin, viereckige Augen zu bekommen, war sie die ganze Nacht aufgeblieben und hatte sich On the Town angesehen, nur um sich ihre Vorliebe für Musicals zu bestätigen. Es war ein unglaublich beglückendes Erlebnis gewesen
- wie das Wiedersehen mit einer Freundin, die sie jahrelang nicht gesehen hatte.
Sie waren alle da gewesen: Gene Kelly und Frank Sinatra
- Claudies Helden in ihren süßen Matrosenanzügen, Vera-Ellen und Ann Miller – die so beschwingt über die Leinwand getanzt waren, und Betty Garrett – die freche Taxifahrerin, eine unglaubliche Quasselstrippe, die sie so sehr an Kristen erinnerte.
Sie konnte ein ganzes Wochenende damit zubringen, sich ein Musical nach dem anderen anzusehen. Dann plante sie alles andere um dieses Vergnügen herum: Zuerst ging sie einkaufen. Es war immer gut, früh aufzustehen und das zu erledigen, bevor der Rest der Welt aufwachte. Am liebsten war sie wieder in ihrem Haus, bevor irgendjemand mitbekommen konnte, dass sie es überhaupt verlassen
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