Unter deinem Stern
erwähnte Dr. Lynton mit keinem Wort. Claudie erzählte ihm sogar von dem Anruf, den sie erhalten hatte, kurz bevor sie nach York aufgebrochen war.
»Claudie?«, fragte eine unsichere Stimme.
»Ja.«
»Hier ist Alison. Alison Gale.«
Claudies Augen weiteten sich. Sie hatte seit Monaten nicht mit Lukes Mutter gesprochen. Claudie wurde den Verdacht nicht los, dass dieser Anruf irgendetwas mit Daniel zu tun haben musste, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Hör zu«, sagte Alison, »ich wollte dich schon lange mal anrufen.«
Schweigen. Alison hatte offenbar ein schlechtes Gewissen.
»Ich weiß«, hörte Claudie sich sagen.
»Wie – wie geht es dir?«
»Gut«, sagte Claudie. »Ich glaube, es geht mir gut.«
»Das freut mich zu hören. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht.«
»Wie geht es dir?«, fragte Claudie.
»Gut«, erwiderte sie knapp, und ihre Stimme klang so kalt wie ein Eiszapfen.
»Und deinem Mann? Wie geht es dem?«, erkundigte sich Claudie. Sie war ihm nur wenige Male begegnet. Er hatte eine ähnliche Statur wie seine beiden Söhne, war jedoch sehr wortkarg.
»Er arbeitet zu viel.«
»Ja«, sagte Claudie. David Gale war der Typ Mann, der sich in seine Arbeit stürzte, damit er nicht über Dinge nachdenken musste, mit denen er sich eigentlich dringend beschäftigen sollte.
»Kann ich irgendetwas für dich tun?«, erkundigte sich Alison heiser.
»Nett, dass du fragst, aber ich komme schon zurecht«, sagte Claudie. Es war die einzige Antwort, die sie ehrlich geben konnte, und die einzige, mit der Alison Gale umgehen konnte. Doch dann fiel Claudie etwas ein, das Jalisa ihr gesagt hatte.
»Kommunikation, Claudie, ist ein machtvolles Instrument. Benutze es weise.«
Die Engel hatten ihr beigebracht, dass Gespräche eine therapeutische Wirkung hatten – einfache Gespräche, egal worüber.
»Alison?«
»Ja?«
»Du könntest mich doch mal zum Essen besuchen, oder wir könnten zusammen einen Spaziergang machen.«
Schweigen. Diesmal spürte sie Alisons Angst.
»Ach«, sagte sie schließlich. »Das ist ein guter Vorschlag.«
»Schön«, sagte Claudie. Sie hielt es für besser, noch keinen Termin auszumachen und die Frau dadurch nur noch mehr zu verschrecken. »Was hältst du davon, dass ich dich demnächst einfach mal anrufe?«
»J-ja. Ruf mich an.«
»Tschüs dann.«
»Tschüs, Claudie.«
»Es war wirklich seltsam«, sagte Claudie zu Dr. Lynton. »Ich hatte überhaupt kein Herzklopfen, sondern war völlig ruhig, so als würde ich ganz langsam vorwärts gehen, Schritt für Schritt.«
»Das sind ja großartige Neuigkeiten! Fantastisch!«
Am Ende der Sitzung standen sie auf und lächelten einander an.
»Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten, Claudie. Ich wünsche Ihnen für Ihre Zukunft alles, alles Gute.«
»Danke.« Sie schüttelten sich die Hand. »Ach! Beinahe hätte ich’s vergessen. Das wollte ich Ihnen noch zurückgeben.« Sie kramte sein Buch aus ihrer voluminösen Handtasche. »Vielen Dank«, sagte sie.
»Haben Sie das Freud-Zitat auf Seite dreiundsechzig gelesen?«
»Ja. Vielen Dank«, sagte sie noch einmal.
Dr. Lynton nickte. »Na dann«, sagte er schließlich. »Leben Sie wohl, Claudie.«
Claudie nahm ihre Einkaufstüten, ging den Korridor hinunter und wartete, bis Dr. Lynton ihr die Tür aufhielt. Als sie in den sonnigen Nachmittag hinaustrat und ihr Blick auf das Messingschild fiel, kam ihr etwas in den Sinn.
»Dr. Lynton?«
»Ja?«
Sie biss sich auf die Lippe. Sollte sie sich trauen, ihn darauf anzusprechen? »Ich habe mich immer gefragt – wofür steht das B?«
Dr. Lynton grinste, als hätte er mit der Frage gerechnet. »Bruno«, sagte er.
Beinahe hätte Claudie laut gelacht. Hieß er wirklich Bruno? Wollte er sie auf den Arm nehmen? Der Name klang so banal.
Sie schaute in seine freundlichen Augen. Nein, dachte sie, Bruno passt zu ihm. Bruno war perfekt.
Epilog
Wer war bloß auf die Idee gekommen, im November an der Küste entlangzuschlendern? In Nord-Yorkshire machte man es sich im November zu Hause gemütlich. Aber Claudie und Simon waren nicht die einzigen Verrückten, die einen Spaziergang am winterlichen Strand romantisch fanden. Nur leider sahen die meisten Leute, denen sie begegneten, nicht gerade wetterfest aus, sondern eher vom Wetter ramponiert.
Claudie sah zu, wie der Wind Simons Haare zauste, als wollte er sie ihm vom Schädel reißen. Sie selbst hatte sich einen Schal um den Kopf gewickelt, das war zwar nicht
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