Unter deinem Stern
unwillkürlich lächeln. »Wer bist du?« Sie kratzte sich am Kopf. »Bin ich etwa dabei, verrückt zu werden?«
Die kleine Frau schüttelte den Kopf. »Nein, du bist nicht dabei, verrückt zu werden, Claudie. Du bist dabei, gesund zu werden.«
»Sieht dich außer mir niemand?« Gott, sie war verrückt, es gab keine andere Möglichkeit. Jetzt redete sie schon mit Erscheinungen! Dafür konnte man eingesperrt werden.
»Natürlich sieht mich niemand anders. Ich gehöre dir! «
»Mir? Was meinst du damit?«
»Ich bin hier für dich – für niemanden sonst. Ist dir das denn nicht klar?«
Claudie schüttelte ganz langsam den Kopf. »Du bist doch nicht etwa –«
»Ein Produkt deiner Fantasie?«
»Ja! Woher wusstest du, dass ich das sagen wollte?«, fragte Claudie verblüfft.
Die kleine Frau zuckte die Achseln. »Weil ich so was schon oft gemacht habe. Ich kenne alle Fragen.«
»O Gott! Ich glaube, ich bin drauf und dran, durchzudrehen!«
»Claudie?« Das war Kristen.
Zum dritten Mal innerhalb von zehn Minuten zuckte Claudie vor Schreck zusammen. Das wird allmählich lächerlich, dachte sie. Vielleicht sollte sie sich einfach geschlagen geben, nach Hause gehen und sich ausschlafen.
»Hier ist dein Kaffee.« Kristen stellte die Tasse auf Claudies Peter-Rabbit-Untersetzer, setzte sich auf die Schreibtischkante und nippte an ihrem Kaffee. Claudie wusste, dass das Ärger bedeutete.
»Alles in Ordnung, meine Liebe? Du siehst ein bisschen blass aus.«
»Ich sehe immer blass aus«, scherzte sie, bemüht, ein heiteres Lächeln aufzusetzen, was jedoch unter den gegebenen Umständen nicht leicht war. »Bartholomew hat mir das hier gerade gebracht.« Sie nahm den Brief ihres Chefs aus dem Eingangskorb und hoffte, Kristen würde annehmen, sie hätte aus Ärger über das unzumutbare Gekritzel vor sich hingeflucht.
»Ach du je! Kein Wunder, dass du so blass bist. Wieso macht er das? Den Brief hast du doch mindestens schon fünfmal abgetippt.«
»Sechsmal. Und jetzt mach ich’s zum siebten Mal.« Claudie warf einen unauffälligen Blick auf den Ficus. Die kleine Frau war immer noch da, aber sie saß jetzt ganz still und beobachtete die beiden Freundinnen aufmerksam. Claudie lächelte in sich hinein. Keine Frage, sie war dabei, verrückt zu werden.
»Claudie«, setzte Kristen noch einmal an.
Claudie kannte diesen Ton. Er kündigte immer eine ganz persönliche Frage an.
»Ja?«, antwortete sie geistesabwesend, während sie den gespeicherten Brief aufrief. Die kleine Frau war inzwischen von dem Ficus gestiegen und tanzte hinter dem Monitor auf dem Schreibtisch.
»Wie laufen denn deine Sitzungen in York?«
»Gut. Warum?«
»Nur so«, sagte Kristen übertrieben beiläufig. »Was hat er dir denn diesmal zu lesen gegeben?«
»Nichts. Ich hab ihm gesagt, ich will keine Bücher mehr.«
Kristen runzelte die Stirn, schob sich die roten Haare aus dem Gesicht und schaute Claudie ungläubig an. »Hältst du das für eine vernünftige Entscheidung?«
Claudie musterte ihre Freundin und gab sich alle Mühe, die tanzende kleine Frau hinter ihrem Monitor nicht zu beachten. »Ich habe das Lesen satt«, sagte sie.
Kristens Augen verengten sich zu Schlitzen. »Dein Akzent ist wieder da.«
»Was soll das heißen?«
»Wenn du im Stress bist, kommen jedes Mal deine französischen Wurzeln wieder durch.«
»Quatsch!«
»Siehst du! Ich hab’s ja gesagt!« Kristen nickte bedeutungsvoll und zeigte mit dem Finger auf ihre Freundin.
Claudie schüttelte stumm den Kopf, denn weder wollte sie zugeben, dass Kristen Recht hatte, noch wagte sie, überhaupt etwas zu sagen.
Kristen schlürfte genüsslich ihren Kaffee. Offenbar hatte sie nicht vor, Claudie in Ruhe zu lassen, bis sie ihr ein umfassendes Geständnis abgerungen hatte.
»Ich bin eben Halbfranzösin. Was erwartest du denn?«
»Ja, Schätzchen, aber normalerweise merkt man es dir nicht an.«
Claudie lächelte. »Hör zu – es geht mir ausgezeichnet. Ich habe nicht die Spur von Stress.«
Kristen kaute auf ihrer Unterlippe. »Also gut, wenn du dir ganz sicher bist«, sagte sie und stand auf.
»Ich bin mir ganz sicher«, wiederholte Claudie ihre Worte in der Hoffnung, sie endlich loszuwerden.
»Okay. Du weißt, wo du mich findest, wenn du mich brauchst.«
»Danke.« Claudie schaute Kristen nach, die an ihren Schreibtisch ging und kopfschüttelnd die Unterlagen betrachtete, die sich dort stapelten. Dann, als sie sich umdrehte, sah sie wieder die kleine Frau. Eigentlich hatte sie
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