Unter deinem Stern
war: Sie brauchte eine Dosis Koffein.
Doch auch während sie überlegte, ob sie lieber einen wässrigen Tee oder einen breiigen Kakao trinken sollte, ging ihr das merkwürdige Erlebnis nicht aus dem Kopf. Einen Moment lang hätte sie schwören können, dass sie gesehen hatte, wie eine winzige Gestalt in ihrem Stiftebecher verschwunden war.
2
Claudie fragte sich, ob Dr. Lynton ihr glauben würde. Sie genoss die Sitzungen bei ihm. Eine volle Stunde lang die ganze Aufmerksamkeit eines Menschen zu genießen, hatte etwas unerwartet Tröstliches. Aber half es ihr weiter? Seit mehreren Wochen ging sie nun schon in die Therapie, doch sie war sich immer noch nicht sicher, ob sie dort Fortschritte machte. Immerhin hatte es den Effekt, dass ihre beste Freundin Kristen sie seitdem in Ruhe ließ. Sie konnte sich manchmal schlimmer aufführen als eine Mutter, und bei der Mutter, mit der Claudie geschlagen war, wollte das etwas heißen.
Claudie hatte nie ein enges Verhältnis zu ihrer Mutter gehabt, die sie unter dem Vorwand, ihr eine gute britische Bildung zukommen lassen zu wollen, im Alter von acht Jahren in Marseille in ein Flugzeug nach London gesetzt hatte. In Wirklichkeit aber hatte sie ihre Tochter nur loswerden wollen, um sich von Claudies Vater scheiden zu lassen und ihren blutjungen Liebhaber, einen Hutmacher, heiraten zu können, den Claudie zutiefst verabscheute. Später hatte sie dann erfahren, dass das Ganze von vornherein seine Idee gewesen war. Er hatte einen Vetter in England, der in der Nähe des Internats wohnte und dieses in den höchsten Tönen gelobt hatte. Dabei hatte er mit seinen über vierzig Jahren die Schule längst hinter sich gehabt und nicht befürchten müssen, dass man ihn auf eine solche Anstalt schickte.
Es war eine schreckliche, düstere Zeit gewesen, und Claudie hatte ihren Vater nie wiedergesehen, aber immerhin hatte ihre Mutter fortan zu jeder Gelegenheit den passenden Hut gehabt. Claudie hatte ihr nie wirklich verziehen. Mit acht Jahren war sie viel zu jung gewesen, um sich auf einem vorsintflutlichen Gehöft mitten in den Mooren des nördlichen Yorkshire zurechtzufinden, und sie hatte sich jeden Abend die Augen aus dem Kopf geweint, bis ihrer Mutter nichts anderes übrig geblieben war, als sie wieder von der Schule zu nehmen.
»Was sollen wir bloß mit dir anstellen?«, hatte sie gejammert, als wäre Claudie ein fremdes Kind, das ihr das Leben schwer machte.
So waren sie nach Whitby gezogen, an einen fremden und unwirtlichen Ort, wenn man das südfranzösische Klima gewöhnt war. Andererseits war das Leben dort relativ billig, und ihre Mutter konnte es sich leisten, regelmäßig nach Frankreich zu fliegen, um ihre Sonnenbräune aufzufrischen und ihre Hutsammlung zu vervollständigen.
Dass sie so ein zerrissenes Leben führte, machte Claudie nichts aus, denn während dieser Zeit hatte sie Kristen kennen gelernt. Die liebenswürdige Kristen mit der langen Mähne und dem losen Mundwerk hatte schon bald die Rolle der Mutter übernommen, und nachdem die beiden Freundinnen die Schule abgeschlossen, sich jeweils ein kleines Apartment und eine Lehrstelle bei einem ortsansässigen Anwalt besorgt hatten, war Claudies Mutter endgültig nach Frankreich zurückgekehrt. Bis heute kam sie kaum jemals zu Besuch. Selbst Lukes Tod hatte Mutter und Tochter einander nicht näher bringen können. Am Morgen nach der Beerdigung hatte Claudie einen Zettel auf dem Küchentisch vorgefunden, auf dem ihre Mutter sie lapidar darüber informierte, sie habe bereits abreisen müssen, werde jedoch demnächst anrufen. Was sie natürlich sowieso nicht tun würde, es war nur so eine Floskel.
Claudie verspürte nicht den geringsten Wunsch, an ihren Geburtsort zurückzukehren. Sie liebte Yorkshire.
Sie trat aus dem Bahnhof, überquerte die Straße und ging an der Stadtmauer entlang. Die Stadt hatte etwas, das ihr immer wieder einen wohligen Schauer über den Rücken laufen ließ. Vielleicht war es die Vorstellung, dass der Ort einst Römer, Wikinger und Raubritter ebenso angezogen hatte wie heute moderne Touristen.
Und nun sie. Claudie hatte ihr eigenes kleines Eckchen von York in der Elizabeth Street Nummer fünfzehn gefunden, einem dreistöckigen, aus hellem Sandstein erbauten Haus mit einer hellgelben Haustür und einem Messingschild daneben. Als sie das Schild zum ersten Mal gesehen hatte, musste sie laut lachen, denn auf Dr. Lyntons Namen folgte eine Reihe von Buchstaben, die für eine Kurzgeschichte
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