Unter deinem Stern
ausgereicht hätten. Ohne eine Ahnung zu haben, was die Buchstaben bedeuteten, hatte sie sich jedoch auf die Empfehlung der Freundin einer Freundin von Kristen verlassen.
Auf welchem Fachgebiet der Mann promoviert hatte, war ihr schleierhaft. Sie wusste, dass man heutzutage eine Doktorarbeit über Disney schreiben konnte und dass Titel vor und Buchstaben nach dem Namen wenig bedeuteten, aber Dr. Lynton hatte sich als wunderbarer Therapeut entpuppt. Mit seiner freundlichen, warmherzigen Art hatte er schnell ihr Vertrauen gewonnen, und in den Sitzungen bot er ihr die perfekte Mischung aus Zuhören und Ratschlägen, die sie so dringend brauchte, um aus ihrem inneren Sumpf herauszufinden.
Anfangs hatte sie sich immer wieder ins Gedächtnis rufen müssen, dass er kein Freund, sondern ein Profi war, doch bald hatten sie zu einer Distanz gefunden, wie sie zwischen Lehrer und Schüler üblich ist.
Sie wusste nicht einmal, wofür das »B« in Dr. B. Lynton stand, obwohl sie sich schon häufig den Kopf darüber zerbrochen hatte. Mehrere Wochen lang war sie davon überzeugt gewesen, dass sein Vorname Basil lautete: ein aristokratischer Name, der für Kultiviertheit sprach. Doch dann war sie wieder davon abgekommen. Nein, es musste Bertram sein. Dr. Bertram Lynton. Würdevoll, ohne unnahbar zu sein. Ja, das gefiel ihr.
Eigentlich war sie sich nicht so recht darüber im Klaren gewesen, was sie von den Sitzungen in York erwarten sollte und ob Dr. Lynton seriös war oder nicht. Außerdem hatte sie dem Thema Therapie eher skeptisch gegenübergestanden – sie konnte sich nicht erklären, welchen Nutzen es haben sollte, sagen zu können: »Hallo, ich bin Claudie, und ich bin Witwe.« Würde eine solche persönliche Aussage dazu führen, dass es ihr besser ging? Und was würde Luke dazu sagen, wenn er erführe, dass sie bei einem Therapeuten in Behandlung war? Er war immer so selbstständig und unabhängig gewesen und wäre wahrscheinlich entsetzt zu erfahren, dass sie professionelle Hilfe in Anspruch nahm. Doch sie war einfach nicht so stark wie er.
In ihrer ersten Sitzung hatte Dr. Lynton ihr erklärt, jeder Mensch sei ein Individuum, und es sei so gut wie unmöglich vorherzusagen, in welchem Zeitrahmen sich eine Verbesserung einstellen würde. Woran aber sollte sie erkennen, dass sie Fortschritte machte? Würde sie irgendwann morgens aufwachen und geheilt sein? Wie fühlte man sich, wenn man die Trauer überwunden hatte? So als würde man aus einer Narkose aufwachen? Oder als sei man gerade von einer schlimmen Grippe genesen? Konnte sie überhaupt damit rechnen, jemals wieder so zu werden, wie sie früher gewesen war?
Außer Frage stand jedenfalls, dass die Sitzungen bei Dr. Lynton angenehmer waren als die Nachmittage am Computer in der Kanzlei Bartholomew and Simpson. Claudie liebte die alten Häuser mit den hohen Decken und den opulenten Bilderleisten, und allein das Vergnügen, eine Stunde in dieser prächtigen Umgebung verbringen zu dürfen, lohnte die Fahrt hierher.
Sie drückte auf den Klingelknopf, der sie immer an ein dickes Stück Lakritz erinnerte, und sie brauchte nicht lange zu warten, bis Dr. Lynton öffnete. Hünenhaft groß, aber mit einem butterweichen Lächeln hieß er sie willkommen und ließ sie eintreten. Seine Praxis befand sich im hinteren Teil der Wohnung, von wo aus man auf einen winzigen, mit überquellenden Blumentöpfen und Pflanzkübeln voll gestellten Hof blickte. Claudie erwischte sich häufig dabei, dass sie aus dem Fenster schaute, wenn sie eigentlich ihr Inneres erkunden sollte. Mit Pflanzen kannte sie sich nicht aus, hätte jedoch gern mehr darüber gewusst. Das Einzige, was sie in dem üppig wuchernden Grün erkannte, waren der Lavendel und der Rosmarin mit seinen grünen Stacheln. Vielleicht handelte es sich bei den anderen Pflanzen um Heilkräuter. Vielleicht würde er ihr welche davon verabreichen, wenn sie ihn darum bat. Aber vielleicht eignete sich das Klima in York auch gar nicht zum Anbauen von Opium.
Der Raum war in einem warmen Dottergelb gestrichen, und es gab zwei Nischen, die voll gestopft waren mit Büchern, wie man sie sonst nur in Antiquariaten fand. An den Wänden hingen ausgesuchte, in Gold gerahmte Aquarelle von Landschaften der Umgebung, und neben der Terrassentür stand ein riesiger Philodendron. In der ganzen Wohnung herrschte eine Atmosphäre vergangener Pracht, was womöglich zu der inneren Ruhe beitrug, die Claudie überkam, wenn sie sich dort
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