Unter deinem Stern
inmitten ihrer Filmsammlung auf dem Boden hockte.
»Ich kann es nicht finden!«, rief Claudie, als Kristen das Zimmer betrat.
»Was kannst du nicht finden?«, fragte Kristen, entsetzt über das bleiche Gesicht und die großen, verzweifelten Augen, mit denen Claudie sie anschaute.
»Mein Kiss Me Kate-Video. «
»Vielleicht ist es in der falschen Hülle?«
»Aber ich hab alles durchsucht, alles! Es ist einfach nicht da.«
»Es muss doch irgendwo sein«, sagte Kristen und kniete sich hin, um ihrer Freundin beim Suchen zu helfen. »Beruhige dich, Claudie, wir werden es schon finden.«
Aber anstatt sich zu beruhigen, hatte Claudie noch zwei Kartons mit Videos und DVDs ausgeschüttet, sodass das Chaos komplett war.
»Wo kann es denn nur sein? Ich muss dieses Video unbedingt wiederfinden! Hilf mir, Kris! Hilf mir, es zu finden!«
»CLAUDIE! Du machst mir Angst! Hör auf! Hör endlich auf!«, schrie Kristen, packte Claudie, die heftig zitterte, an den Schultern und drückte sie fest an sich.
»Ist ja gut!«, sagte sie immer wieder.
Es war furchtbar. Noch nie in ihrem Leben hatte Kristen eine solche Angst ausgestanden, und so wollte sie Claudie nie wieder erleben. Sie war den ganzen Tag und auch die Nacht über bei ihr geblieben, hatte sie getröstet, ihr etwas zu essen gemacht, sie ins Bett gebracht, hatte Krankenschwester, beste Freundin und Mutter für sie gespielt.
Angela riss sie aus ihren Gedanken. »Was schlägst du also vor?«
»Na ja, wir können ihr schlecht bis nach York folgen, oder? Wir müssen einfach davon ausgehen, dass sie ihren Therapeuten besucht. Ich wünschte nur, sie würde sich ein Handy anschaffen. Dann könnten wir sie wenigstens ab und zu anrufen, um zu hören, wie es ihr geht.«
»Im Kino muss man die Dinger doch sowieso ausschalten. Dann wüssten wir auch nicht, ob sie zu den Sitzungen geht oder nicht. Sie könnte einfach behaupten, dass sie da war.«
Kristen sah Angela wütend an. »Ich möchte mal wissen, warum wir über Handys diskutieren, wenn sie gar keins hat und auch nicht beabsichtigt, sich eins zuzulegen.« Dann seufzte sie laut. »Was macht sie da eigentlich mit dem Stiftebecher?«
Kristen und Angela sahen Claudies glänzende braune Haare hin und her schwingen, während sie die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch durchblätterte.
»Sie hat ihn heute Morgen schon zum dritten Mal geleert«, flüsterte Kristen.
»Ihre Briefeingangsablage hat sie auch schon ein Dutzend Mal durchgesehen. Wahrscheinlich ist ihr irgendwas abhanden gekommen.«
Kristen nickte. Genau das befürchtete sie schon seit neun Monaten.
Claudie betrachtete den Aktenstapel, der sich über ihre Schreibtischkante neigte wie eine papierne Ausgabe des schiefen Turms von Pisa. Genug Arbeit, um sie eine ganze Woche lang zu beschäftigen, doch sie konnte sich einfach nicht aufraffen, damit anzufangen.
Seltsam, aber seit dem Morgen hatte sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie wusste, dass Kristen und Angela wieder über sie geredet hatten: Die beiden waren etwa so diskret wie ein Vorschlaghammer, allerdings war da noch etwas anderes. Es kam ihr vor, als hätte ihr Computer sich in ein gigantisches Auge verwandelt, als säße ein Zyklop auf ihrem Schreibtisch, der sie musterte, ihr Verhalten protokollierte und sie beurteilte. Der Gedanke war ihr unheimlich. Immer wieder fand sie Gründe, sich von ihrem Schreibtisch zu entfernen. Kramte kurz in einem Aktenschrank herum, ging zur Toilette, hielt sich länger als nötig am Kopierer auf. Doch sobald sie an ihren Arbeitsplatz zurückkehrte, war das Gefühl wieder da.
Inzwischen war sie regelrecht paranoid und schaute sich immer wieder im Raum um, als erwartete sie, eine versteckte Kamera zu entdecken, als wäre sie ein Versuchskaninchen oder der unfreiwillige Star einer neuen Fernsehsendung. Aber alles wirkte normal, deprimierend normal.
Sie hatte noch ein Problem. Dauernd kam ihr irgendetwas abhanden. Gestern war es ihr Taschenrechner, heute ihr silberner Kugelschreiber. Sie war sich sicher, dass sie ihn neben der Tastatur hatte liegen lassen, doch da lag er nicht mehr. War sie dabei, den Verstand zu verlieren? Wahrscheinlich. Im Moment war sie einfach zu nichts zu gebrauchen.
Und dann passierte es. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie etwas sich bewegte: flink und geschmeidig wie ein Fisch. Sie drehte sich um und blinzelte, aber was auch immer es gewesen sein mochte, es war schon wieder verschwunden. Lächelnd schüttelte sie den Kopf. Sie wusste, was los
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