Unter dem Räubermond
zwei Drittel der Mannschaft war Ruhe befohlen – vorerst war nicht abzusehen, dass zusätzliche Hände gebraucht würden.
»Wenn wir wenigstens aus der Staubwolke herauskämen«, murmelte der krummrückige Meuterer. »Und abbiegen kann man nicht … Er jagt uns absichtlich vor dem Wind …«
»Wer?«, fragte Ar-Scharlachi träge.
»Na, der Karawanenführer …«
»Wieso der Karawanenführer?« Ar-Scharlachi schüttelte den Kopf, versuchte wenigstens teilweise die Schläfrigkeit zu verscheuchen. »Ist der denn nicht umgebracht worden?«
»Nicht doch …«, sagte Riybra verlegen und wohl sogar schuldbewusst. »Er ist entkommen …«
Ar-Scharlachi erinnerte sich an die beiden stolpernden Gestalten, die über den mondhellen Sand davongelaufen waren.
»So ist das also …«, murmelte er schließlich, ohne zu wissen, ob er über diese unerwartete Mitteilung erschrocken oder froh sein sollte. Einerseits war der ehrwürdige Chaïlsa ein Dummkopf, was Hoffnung machte. Andererseits gab ebendieser Um stand Anlass zu ernstesten Befürchtungen. So einer würde nicht lockerlassen. So einer würde sie bis ans Ende verfolgen …
»Fertig!«, sagte Ar-Scharlachi. »Ablösung! Mir fallen schon die Augen zu … Wecke Aliyat! Und sieh zu, dass du selbst wenigstens ein bisschen döst …«
Ohne das Steuerrad loszulassen, langte Riybra mit einer Hand zur Tür, und ins Deckhaus wehte ein rauer, sandgesättigter Wind. Der Anführer rief jemandem auf dem windgepeitschten Deck einen Befehl im Namen Scharlachs zu. Jemand lief, um zu wecken, zu holen … Bald erschienen im Deckhaus Aliyat, die sich die Augen rieb, und ein groß gewachsener, finster blickender Matrose – anscheinend derselbe, der den Treiber mit dem Haumesser erledigt hatte.
Stolz, dass er mit keinem Geringeren als Scharlach am Steuer gestanden hatte, übergab Riybra den Platz am Rad und begleitete den berühmten Räuber zur Kajüte des Karawanenfüh rers. Der Boden unter den Füßen ruckte und wankte, sodass Ar- Scharlachi zweimal gegen einen Pfosten stieß, ehe er in den Raum gelangte, der zuvor dem ehrwürdigen Chaïlsa gehört hatte.
Mit letzter Kraft öffnete er die Schränkchen und suchte Wein, fand aber keinen und ließ sich enttäuscht auf das niedrige, weiche Bett fallen.
Ihn weckte Aliyat, wie üblich über etwas erbost.
»Ha …?«, murmelte er schlaftrunken. »Was ist …? Schon …?«
»Vorerst noch nicht!«, schnappte sie zurück. »Aber bald!«
»Was bald?« Er setzte sich auf, blinzelte beunruhigt. Das Ruckeln hatte aufgehört. Der Samum wiegte und neigte sich langsam.
»Sie werden uns bald einholen, das ist!«
Ar-Scharlachi sprang auf. Das vordere Sichtfenster war klar. Sie hatten das Sandgestöber der Tschubarra hinter sich gelassen. Voraus lagen abschüssige Sandhügel. Der Staubsturm, den die Verfolger aufgewirbelt hatten, lag jetzt seitlich von ihnen, verschlang die rechte Seite der Welt. Also war es gelungen, den Kurs zu ändern.
Wie sich herausstellte, hätte diese Kursänderung die Flüchtigen beinahe ins Verderben gestürzt, und das erst vor Kurzem. Der Karawanenführer hatte nicht umsonst angeordnet, seine Schiffe auf möglichst breiter Front auseinanderzuziehen, und als Aliyat es nicht mehr aushielt, fast blind zu fahren, und versuchte, den Samum aus dem Staubvorhang herauszu führen, schlich sich von rechts der Salamander heran, jetzt das Flaggschiff der Karawane. Im blendenden Schein der Kampfschilde ging er über den Dünen auf wie eine zweite Sonne, wie ein unsäglich weißer Stern. Zum Glück überquerte wenige Augenblicke später der Samum den Kamm, und das stechende böse Strahlen hinterm Heck versank. Nun musste auch der Salamander den Kurs leicht ändern, und das rettete die Meuterer.
Da wäre auf dem Samum beinahe die zweite Meuterei ausgebrochen: Die Matrosen mit Riybra an der Spitze verlangten, dass sofort Scharlach geweckt werde, da diese Frau mit ihren sonderbaren Befehlen sie beinahe dem Karawanenführer ausgeliefert hätte.
Aliyat war außer sich.
»Wohin fahren wir?«, fragte Ar-Scharlachi heiser und überprüfte mit besorgter Miene das Schränkchen neben der Alabasterbüste des Herrschers. Der Unerforschliche und Unsterb liche war wie üblich mit einem Bündel Blitze in der Rechten und einer Pergamentrolle mit Edikten in der Linken dargestellt.
»Nach Kimir.«
Ar-Scharlachi erstarrte für eine Sekunde, dann wandte er sich langsam um, einen versiegelten bauchigen Krug an die Brust gepresst.
»Das ist doch
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