Unter dem Räubermond
befahl eine Rast bis zum Morgen und hoffte, tags darauf den hier vorherrschenden Ostwind nutzen und unter vollen Segeln aufbrechen zu können.
Die in flüssiges Silber getauchten Schiffe saßen auf dem mondhellen Sand wie vier riesige Skorpione. Ar-Scharlachi fand keinen Schlaf. Er saß zusammengesunken da, wie zerschnitten von einem Streif kalten Lichtes, das durch den breiten Sehschlitz auf ihn fiel, und dachte wehmütig daran, was am nächsten Tag geschehen würde. Wie lange würde es ihm noch gelingen, dem ehrwürdigen Chaïlsa etwas vorzumachen und so zu tun, als könne er tatsächlich den Durchgang in den Felsen nicht finden, der irgendwo hier sein musste?
In der Ecke gegenüber raschelten die undeutlichen weißen Falten, regten sich – Aliyat litt ebenfalls unter Schlaflosigkeit. Schließlich setzte sie sich auf, die Kette klirrte.
»So hoch sind die Berge also …«, sagte sie verwirrt. »Wie konnten sie da überhaupt leben?«
»Wer?«
»Die Vorfahren … und die Kamele …«
»Sie haben nicht dort gelebt«, sagte Ar-Scharlachi. »In den Bergen überlebt man nicht lange – Schnee, Eis …«
»Aber sie sind doch von den Bergen herabgekommen!«
»Stimmt. Sind sie. Aber sie haben nicht in den Bergen gelebt. Sie sind von jenseits der Berge gekommen, von der anderen Seite, verstehst du?«
Eine Zeit lang verdaute Aliyat mit bekümmerter Miene das Gehörte. Der Gedanke, dass die Berge noch eine andere Seite haben könnten, war ihr anscheinend nie in den Sinn gekommen.
»Und woher weißt du das alles?«, fragte sie misstrauisch.
Ar-Scharlachi lächelte. »Ich habe lange in Harwa studiert«, erklärte er. »Größtenteils bin ich zwar durch die Kneipen gezogen, aber studiert habe ich auch … zwischen den Besäufnissen …«
»Erzähl«, verlangte Aliyat plötzlich.
»Wovon? Von den Besäufnissen?«
»Nein. Von den Bergen. Was ist dort auf der anderen Seite?«
»Weißt du …«, sagte Ar-Scharlachi. »Mit den Bergen ist es wie mit dem Meer. Niemand weiß etwas Genaues, aber sie streiten sich, prügeln sich fast. Einer meiner Bekannten, der ehrwürdige Heyka, hatte in seiner Privatsammlung ein Manuskript, das Aregug eigenhändig geschrieben haben soll – derselbe, den sie schon zu Lebzeiten den Gottlosen nannten … Das ist natürlich alles Unsinn, Aregug hat dieses Manuskript nicht einmal angerührt, trotzdem ist es ein überaus interessantes Dokument …«
Ar-Scharlachis Gesicht unter dem fast bis zur Nasenspitze abgesenkten Schleier wurde lebhaft, die Falten auf der Stirn glätteten sich. »Also«, fuhr er fort, »wenn man dem Manuskript glaubt, liegt hinter den Bergen genauso eine Welt, nur Wüsten gibt es dort fast keine, sondern größtenteils Steppen. Unsere Vorfahren lebten in Vorbergen, die denen von Harwa sehr ähnlich sind, bauten Städte, trieben Handel. Schiffe hatten sie nicht, dafür aber Kamele … Und vor reichlich zweihundert Jahren wurden sie überfallen …«
»Von wem?«
»Von Feinden natürlich. Der Überfall war allerdings gleichsam erzwungen. Die Neuankömmlinge wichen selbst einem Schlag aus, waren auch aus ihrem Land vertrieben worden … Verstehst du, dort hinter den Bergen kamen alle Stämme in Bewegung, ein Volk verdrängte das andere, und im Ergebnis fanden sich unsere Vorfahren gegen die Vorberge gedrückt …«
»Aber warum?«
»Du meinst, was der erste Anstoß war …?« Ar-Scharlachi wurde etwas verlegen. »Da weiß ich überhaupt nicht, wie weit man dem Manuskript glauben darf … Die Angaben sind denn doch sehr … nicht einmal zweifelhaft, sondern … märchenhaft sozusagen … Da steht, dass aus dem Meer …«
»Aus dem Meer?«
»Ja. Man muss wohl annehmen, dass es hinter den Bergen auch irgendwo ein Meer gibt … Also aus dem Meer kamen irgendwelche ›Bemalten‹ und begannen, die Menschen auszurotten. Und da entstand so ein Durcheinander …«
»Was heißt ›Bemalte‹?«
»Keine Ahnung. Überhaupt folgen dann lauter Hirngespinste. Die Ankömmlinge aus dem Totenreich – ich denke, das Wort ›Meer‹ wird in ebendiesem Sinne gebraucht – konnten auf riesigen hölzernen Vögeln fliegen, warfen Feuer beinahe meilenweit … Na und so weiter. Ein Märchen ist halt ein Märchen. Was aber ist die Hauptsache? Dass unsere Vorfahren, um sich vor der Invasion zu retten, in die Berge gingen, ziem lich lange durch Schluchten und über Pässe irrten und schließ lich, nachdem sie unterwegs alle Kamele eingebüßt hatten, auf diese Seite kamen, in die Vorberge
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