Unter dem Räubermond
eingehen würde. Der Tag, an dem Ar-Maura gutmütig war …
In der Männerhälfte allein geblieben, breitete der Richter eigenhändig zwei Teppiche aus, warf Kissen auf den Boden, stellte auf ein Silbertablett einen Krug im nassen Tuch und flache Trinkschalen. Dann nahm er die Schlüssel vom Gürtel und öffnete eine schmale Tür in der Wand. Der Häftling (er saß in der Ecke, die Beine angezogen) hob den Kopf und schaute finster auf die gewaltige, die Türöffnung ausfüllende Gestalt.
»Na?«, ließ sich der ehrwürdige Ar-Maura vorwurfsvoll vernehmen. »Wie oft soll ich dich noch heraushauen?«
Der Häftling schnaubte. »Das nennst du heraushauen?«, fragte er unwirsch. »Danke fürs Heraushauen! Hast mich für nichts und wieder nichts in die Grube geschickt …«
»Macht nichts«, knurrte Ar-Maura. »Du wirst übernachten und in Zukunft klüger sein. Steh auf, komm schon … F-Fliegenheld …«
Der Gefangene stand auf und war mit einem Mal fast ebenso groß wie der gewaltige Richter. Wenn jemand sie beobachtet hätte, wäre er verblüfft gewesen, wie ähnlich die beiden einander waren. Es sah aus, als seien die einzigen Unterschiede zwischen ihnen Alter, Beleibtheit und Hinken.
»Ich hoffe, der ehrwürdige Ar-Scharlachi wird mir nicht abschlagen, ein bescheidenes Mahl und ein geruhsames Gespräch mit mir zu teilen?«, erkundigte sich der Richter ziemlich giftig.
Der Gefangene hatte nur Augen für den Krug Wein in dem feuchten Tuch und für die Schüssel mit Obst.
»Weißt du …«, sagte er und schluckte. »Den ganzen Weg zu deinem Schatten habe ich von nichts anderem geträumt …«
»Na, dass du ein Trunkenbold bist, ist mir bekannt«, bemerkte der Richter, während er sich auf den Teppich zur Rechten setzte und die Kissen bequemer zurechtrückte. »Bitte. Und wenn du nichts dagegen hast …« Er schob die Hand unter die Kopfbedeckung und warf den Schleier vom Gesicht – eine Geste, die jeden Bewohner des Palmenweges mit Entsetzen erfüllt hätte. Ar-Scharlachi lächelte nur und entblößte sein Gesicht ebenfalls. Beide hatten einmal (wenn auch zu verschiedenen Zeiten) in Harwa studiert, sodass ihnen viele Gebräuche der Nacktfressen längst nicht mehr unanständig und schrecklich vorkamen. Außerdem stammten sowohl Ar-Maura als auch Ar-Scharlachi in gerader Linie von den Treibern des Kamels namens Ganeb ab, und Verwandte brauchten sich voreinander nicht zu genieren.
Der Richter schenkte eigenhändig Wein in die Schälchen.
»Möge dein Schatten Kühle verströmen bis zum Ende der Zeiten«, sprach Ar-Scharlachi völlig ernst den rituellen Wunsch aus.
»Machst du dich lustig?«, erkundigte sich Ar-Maura mürrisch. »Mein Schatten gehört nun schon seit zwei Jahren dem Herrscher.«
»Trotzdem …«, bemerkte der junge Gesprächspartner mit einem Seufzer. »Du lebst, wie du gelebt hast. Man kann sagen, du regierst …«
Wie es der Brauch gebot, berührte er mit dem Rand der Schale die Stirn und nahm erst dann einen Schluck.
»Und um deinen Wein kann man dich auch beneiden«, fügte er recht griesgrämig hinzu.
»Werden sie«, presste der Richter durch die Zähne. »Früher oder später werden sie mich darum beneiden. Werden mich von meinem Sessel verjagen – dann können wir zusammen den Holm schieben …«
Und er führte ebenfalls die Schale zur Stirn.
Ar-Scharlachi hatte unterdessen (wiederum dem Brauch folgend) eine Apfelsine geschält und reichte dem Richter eine Hälfte.
»Du sagst also, du hast den ganzen Weg von kaltem Wein geträumt?«, sagte Ar-Maura nachdenklich, während er die halbe Apfelsine entgegennahm. »Warum bist du denn nicht vorbeigekommen? Aus Stolz?«
Ar-Scharlachi zuckte unwillig mit der Schulter und antwortete nicht.
»Na ja, verstehe …« Der Richter nickte. »Du wolltest lieber zu mir gebracht werden … Ich muss sagen, heute hast du mir einen Schrecken eingejagt! Weißt du noch, wie die Rede auf Lieder kam? Die Wache steht da, der Sekretär, dazu noch diese Zeugen … Pass auf, Ehrwürdiger, du bringst dich noch um Kopf und Kragen mit deinen Liedern … deinen Späßen!« Der Richter nahm einen Schluck und musterte den Gesprächs partner über den Rand der Schale hinweg. »Die Verse vom gehorsamen Wasserfall, nehme ich an, stammen von dir?«
Der andere war ein wenig verlegen. »Höre ich zum ersten Mal«, murmelte er ausweichend. »Was für Verse?«
»Na weißt du! Die bekannten … Wie der Fluss, als er das Edikt des Herrschers hörte, wonach das Wasser von
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