Unter dem Safranmond
zwei Landstreicher heute Abend vor ihrer Tür stehen.«
Jonathan grinste, und in seinen grüngesprenkelten Augen blitzte es schelmisch auf. »Die sind Kummer gewohnt!«
»Du meinst, es geht wirklich in Ordnung, wenn ich eine Nacht bei euch bleibe?«, wollte sich Ralph nochmals vergewissern. Jonathan winkte leichthin ab. »Natürlich. Bei uns ist ohnehin immer offenes Haus. Meine Mutter kümmert sich gerne hingebungsvoll um müden und hungrigen Besuch, der unangemeldet zur Tür hereinschneit.« Ralph nickte dankbar und schwieg einen Moment, kniff dann leicht die Augen zusammen. »Wie muss ich mir denn deine Familie vorstellen?«
»Warte.« Jonathan zog aus der Innentasche seines Uniformrocks eine Brieftasche hervor und entnahm ihr eine Photographie in Schattierungen von Sepia und Beige. Sie war schon etwas angeschmutzt, an einer Seite eingerissen und hatte Eselsohren. Das Abschiedsgeschenk der Greenwoods, als sie den einzigen Sohn und Bruder vor drei Jahren schweren Herzens nach Indien hatten ziehen lassen, wo er in der Armee der East India Company als Assistenzarzt seinen Dienst aufgenommen hatte. Jonathan hatte das Bild seither immer als Talisman bei sich getragen.
»Darf ich bekannt machen«, verkündete er mit einer verbindenden Geste zwischen Ralph und der Photographie, »Lieutenant Ralph Garrett, vom Corps of Guides , zweitjüngster Sohn des dritten Baron Chelten– autsch! « Mit einem Tritt vors Schienenbein erinnerte Ralph ihn daran, dass er keinen großen Wert auf »diesen Adelskram« legte, wie er selbst es immer nannte.
»Typisch«, murrte Jonathan und rieb sich die malträtierte Stelle. »Adelig, jede Menge Geld und einen luxuriösen Familiensitz, aber ein Benehmen wie ein Schusterlehrling!« Lachend wich er Ralphs erneut drohendem Stiefel aus. »Darf ich dir jetzt meine Familie vorstellen oder nicht?« Auf Ralphs gnädiges Brummen hin rutschte Jonathan auf der Kante seines Sitzes vor, hielt das Bild schräg und tippte der Reihe nach auf die einzelnen Personen. »Mein Vater Gerald Greenwood, Professor für Alte Geschichte und Philologie am Balliol College. Meine Mutter Martha Greenwood, geborene Bentham. Unser Nesthäkchen Angelina – «
Ralph schnappte sich die Photographie und betrachtete sie eingehend. Anerkennend pfiff er durch die Zähne. » Zau-ber-haft! In der Zwischenzeit muss sie zu einer echten Schönheit erblüht sein. Ist sie noch zu haben?«
»Ich warne dich! Lass bloß deine Pfoten von ihr, du Schwerenöter«, rief Jonathan belustigt und wollte Ralph das Familienportrait wieder entreißen. »Außerdem ist sie launisch und trägt ihr Näschen sehr weit oben. Selbst du wärst meinem Schwesterlein nicht gut genug«, stichelte er, während er sich mit Ralph um das Bild balgte. Letzterer errang schließlich den Sieg in ihrer Rangelei, hielt die Photographie in die Höhe und Jonathan auf Armeslänge von sich. »Da sei dir mal nicht so sicher!«, entgegnete er mit breitem Grinsen. »Ich wüsste sie schon um den Finger zu wickeln und zu bändigen!«
»Ha, keine Chance, aber ich will dir ja nicht gleich jede Hoffnung nehmen!«, konterte Jonathan und warf sich in den Sitz neben Ralph, der sich erneut in das Gruppenbild vertiefte. Er deutete auf die vierte Person, ein junges, dunkelhaariges Mädchen, das etwas abseits der übrigen Familienmitglieder stand, die geballten Fäuste halb in den Falten ihrer Röcke verborgen. »Und wer ist dieses finster dreinblickende Geschöpf?«
Die Augenbrauen zusammengezogen, starrte sie wütend dem Betrachter entgegen, als sei sie mit Gewalt dazu gezwungen worden, sich vor die Linse der Kamera zu stellen. Das trotzig vorgereckte Kinn passte nicht zu ihrer linkischen Haltung, und der fast schon verbissene Ernst in ihrem Gesicht wirkte wenig jungmädchenhaft.
»Das ist meine andere Schwester Maya.« In Jonathans Stimme schwang unverhohlene Zärtlichkeit mit. »Sie ist ein feiner Kerl, ganz anders als Angelina. Bücher sind ihr Ein und Alles. Sie würde ihre Seele dafür verkaufen, an der Universität studieren zu dürfen, und sie kann es nicht verwinden, dass dort nur Männer zugelassen sind.« Unvermittelt ernst blickte er zum Fenster, das mit fortschreitender Dämmerung und dem Schein der mittlerweile auf dem Gang entzündeten Lampen vollends zum Spiegel geworden war. Und doch schien Jonathan hindurchzusehen, in eine nur für ihn sichtbare Ferne. »Manchmal mache ich mir Sorgen, was einmal aus ihr werden soll. Sie ist so verträumt und oft so
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