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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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unglücklich. Als gäbe es für sie keinen Platz, an dem sie je wirklich Wurzeln schlagen könnte …«
    Um eine Erwiderung verlegen, reichte Ralph ihm wortlos die Photographie zurück und klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter. Jonathan kaute auf seiner Unterlippe, als er nachdenklich das Bild wieder verstaute und aufstand. Die Handkanten gegen das kühle Glas gestützt, schirmte er sein Gesichtsfeld beidseitig gegen das Licht in seinem Rücken ab und starrte hinaus.
    »Schnee« , murmelte er schließlich hingerissen. »Ich hatte völlig vergessen, wie Schnee aussieht.«

3
     Es war eine einsame, eine verwunschene Landschaft, durch die Maya lief. Die Dämmerung breitete sich langsam aus, während der Schnee förmlich zu leuchten begann, kühl und geheimnisvoll. Die Äste der noch jungen Linden beiderseits der Straße bogen sich unter ihrer harschigen Last. Dahinter lagen still die weitläufigen Parkanlagen, die zu den alterehrwürdigen Steinbauten der Colleges gehörten: Wadham zur Linken, St. John’s und Trinity zur Rechten. Maya schreckte auf, als sich aus einer Hecke eine Krähe flügelschlagend abstieß und in einer pulvrigen Fontäne aufstieg, nur den Nachhall ihres heiseren Rufens zurücklassend.
    Trotz des warmen Wollkleides und den Unterröcken aus Flanell fror Maya. Ihre bestrumpften Zehen fühlten sich in den geknöpften Stiefeletten schon ganz taub an. Sie ärgerte sich, nicht an ein wärmeres Cape gedacht zu haben oder wenigstens an Handschuhe, aber jetzt wieder umzukehren stand außer Frage. Unbeirrt lief sie weiter, hauchte immer wieder in ihre rot gefrorenen Hände, ehe sie sie wieder unter den Achseln vergrub. Als sie spürte, dass sich erneut eine Haarnadel löste, schüttelte sie unwillig den Kopf, bis auch die letzte Klammer kapitulierte und ihr Haar frei den Rücken herabfiel. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten! Ihre Mutter würde sie ohnehin dafür schelten, bei Dunkelheit alleine unterwegs gewesen zu sein. Da spielte es auch längst keine Rolle mehr, ob sie dies mit oder ohne Hut tat. Und am heutigen Tag sowieso nicht.
    Heute Abend, vor dem Dinner, sollte Maya ihrer Mutter freiwillig alle Briefe Richards aushändigen, die sich über die Jahre angesammelt hatten. Die Vorstellung, ihre Mutter würde all die Zeilen lesen, die nur für Maya bestimmt gewesen waren, war ihr unerträglich. Maya war fest entschlossen, sich zu weigern. Und sollte ihre Mutter ihre Drohung wahr machen, ihr Zimmer bis in den kleinsten Winkel danach absuchen zu lassen, wenn es sein musste, auch ganz Black Hall auf den Kopf zu stellen, würde Maya es vorziehen, den dicken Packen eigenhändig ins Kaminfeuer zu werfen. Auch wenn ihr allein schon bei dem Gedanken daran das Herz zu zerreißen drohte. Sie biss die Zähne zusammen und wünschte sich, noch viel weiter weg laufen zu können als bis ans Ende der Park Street.
    Die Fassade von Wadham College, spitzgiebelig und zinnengekrönt wie eine mittelalterliche Burg, starrte abweisend aus dunklen Fensterhöhlen auf die Straße. Nur hinter einer der schmalen, mehrfach unterteilten Scheiben brannte noch Licht. Ein übereifriger Professor vermutlich, der keine Ferien kannte, denn die Studenten hatten schon vor einigen Tagen die Colleges mit Sack und Pack verlassen, waren ins ganze Land ausgeschwärmt, um die Feiertage bei ihren Familien zu verbringen. Oxford atmete erleichtert auf, sobald die Scharen wilder junger Männer fort waren, zu Weihnachten wie zu Beginn der langen Sommerferien. Eine beschauliche Ruhe kehrte dann ein, ohne Radau in den nächtlichen Gassen, ohne Kneipenrangeleien und freche Streiche – kleinere Gewitter, in denen sich überbordende Lebensenergie entlud, aufgestaut im strengen Tagesablauf von frühmorgendlicher Andacht, Vorlesungen, Studierstunden und Prüfungen. Es war eine wechselseitige Hassliebe zwischen town and gown , zwischen den Bürgern der Stadt und den Studenten in ihren langen schwarzen Gewändern. Eine Hassliebe, die in früheren Zeiten gar zu manch einer bewaffneten Auseinandersetzung geführt hatte. Und dennoch war man stolz auf den schon legendären Ruf Oxfords als Hort der Gelehrsamkeit und des Wissens, schien das Straßenbild in den Ferien unvollkommen ohne die vorübereilenden Studenten, die in den weiten Umhängen wie hektisch flatternde Falter wirkten.
    Ungeduldig trat Maya von einem Bein auf das andere, als sie warten musste, bis hintereinander zwei Droschken in die Broad Street abgebogen waren. Gaslaternen entlang der

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