Unter dem Safranmond
der beiden eckigen, turmähnlichen Vorbauten. Sie war spät dran, viel zu spät, und ein erleichterter Seufzer entfuhr ihr, als sich die Holztür unter der lateinischen Inschrift entgegen ihrer Erwartung noch öffnen ließ. Immer zwei der flachen Stufen auf einmal nehmend, rannte sie das Stiegenhaus empor, stieß die Pendeltür mit dem flauschigen, grünen Stoffbezug und den beiden kreisrunden Fenstern darin auf und kam atemlos in dem langen, schmalen Raum zum Stehen. Eine angenehme Wärme und der vertraute Geruch von alten Büchern – muffig, süß-staubig, mit einer leicht metallenen Note – umschmeichelten sie wie eine Kaschmirdecke und hüllten sie tröstlich ein. Im Halbdunkel glich der Raum unter der alten Balkendecke einem Tunnel, durch den sie ihre Schritte lenkte. Langsam diesmal, als befände sie sich an einem heiligen Ort, und in gewisser Weise traf das auch zu. Vorbei an einem gläsernen Schaukasten, in dem ein paar besonders seltene Exemplare der Buchkunst ausgestellt waren, vorbei an den raumhohen Regalen zu beiden Seiten, in denen sich Buchrücken an Buchrücken drängte. Mayas Blicke wanderten hinauf, die hölzerne Galerie der Empore entlang, von der ihr in Öl die Männer entgegenblickten, die in den Jahrhunderten zuvor Hüter dieser Schatzkammer gewesen waren. Allen voran Thomas Bodley, der unter Königin Elisabeth I. den Grundstock für diese Bibliothek zusammengetragen hatte und die nach ihm benannt worden war. Durch das Rundbogenfenster fiel nur noch ein fahler Lichtschein von draußen auf den Tisch mit Schreibutensilien und Papier. Der hochlehnige, altersvernarbte Stuhl des Bibliothekars dahinter war verwaist. Suchend blickte sie sich um.
»Professor Reay?«, flüsterte Maya in die Schatten hinein, die den Schall dämpften, und doch zuckte sie unter dem Klang ihrer eigenen Stimme zusammen. Sie räusperte sich verhalten, gab sich einen Ruck und wiederholte eine Spur lauter: »Professor Reay?«
»Ich bedaure, wir haben schon …«, ertönte freundlich eine Stimme hinter einem quer in den Raum hineinragenden Bücherschrank und brach mitten im Satz ab. Ein weißhaariger Kopf kam zum Vorschein, und ein Augenpaar musterte Maya ebenso verblüfft wie erfreut über die auf der Nasenspitze ruhende Brille hinweg. »Nanu!«
Erleichtert eilte Maya auf ihn zu, und er kam ihr entgegen, mit jeder Hand einen Buchrücken umfassend, der zu weit geratene Talar um seine hagere, vornübergebeugte Gestalt schlotternd. »Wir haben schon seit fast einer Stunde geschlossen, Miss Maya«, erklärte er, doch in seiner Stimme schwang kein Tadel mit. Nie tat es das bei Professor Stephen Reay, einem der beiden Unterbibliothekare der Bodleian Library. »Ich hatte unten nur noch nicht abgeschlossen, weil ich erst diese«, er hob die zwei Bände leicht an, »Unordnung beiseitigen wollte, die der Dekan des Trinity hinterlassen hat.«
»Professor Reay«, sprudelte Maya hastig hervor, »dürfte ich ausnahmsweise …« Ihre unausgesprochene Bitte legte sie in den Blick, mit dem sie den älteren Herrn bedachte.
Ein Schmunzeln breitete sich auf Professor Reays Gesicht aus, das für einen Moment ein paar der Furchen in seinem Gesicht glättete. »Sie kommen oft ausnahmsweise , Miss Maya! Eines Tages wird Bandinel Sie hier noch erwischen. Und dann möge der Himmel uns beiden gnädig sein.« Maya senkte betreten den Blick auf ihre Stiefelspitzen. Dr. Bulkeley Bandinel, Herr über den Bestand der »Bod«, wie die Bibliothek liebevoll genannt wurde, war gefürchtet von allen, die durch die grüne Pendeltür traten. In unerbittlicher Strenge wachte er über die Einhaltung der Bibliotheksregeln: Zutritt während der wenigen Öffnungsstunden allein für Professoren und für Studenten mit besonderer Empfehlung des Lehrkörpers. Keine Lampen wegen der hohen Brandgefahr. Geldstrafen für den unsachgemäßen Gebrauch der Bücher, wie das Aufstützen auf ein geöffnetes Buch oder Ablegen der eigenen Notizen darauf. Das allerhöchste Gebot der Bodleian Librarylautete jedoch: keine Ausleihe. Dass in ferner Vergangenheit selbst ein Oliver Cromwell und ein König Charles I. sich Letzterem hatten beugen müssen, Bandinel sich selbst davon aber großzügig ausnahm, verdeutlichte nur, welche Macht er besaß. Allein die Tatsache, dass Maya sich in diesen heiligen Hallen aufhielt, hätte für Dr. Bandinel ein Sakrileg bedeutet, das seiner Weltanschauung nach dem Zusammenbruch des Britischen Empire gleichgekommen wäre.
»Bitte! Nur ganz kurz. Ich
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