Unter dem Safranmond
großzügig angelegten Straße malten schon Lichtkreise in die einsetzende Dämmerung, und die Steinmauern der Häuser waren von den ersten goldenen Rechtecken erhellter Fenster durchsetzt. Maya hastete über die Kreuzung, an der die Park Street auf die Catherine Street traf. Pferdehufe und Wagenräder hatten den Schnee in schlüpfrigen Matsch verwandelt, der stellenweise bereits gefror. Sehnsüchtig streifte Mayas Blick die einladend erhellten Schaufenster im Erdgeschoss des schlichten, schnörkellosen Eckhauses gegenüber. Auch Bagg’s Coffee House war heute so gut wie leer; nur zwei der Tische waren mit Herren mittleren Alters besetzt. Wie immer, wenn Maya hier vorbeikam, übte das Kaffeehaus einen nahezu unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. Hier gab es zum Kaffee oder Tee nicht nur Sandwiches mit kaltem Roastbeef, mit Cheddar und sauer eingelegten Zwiebelscheiben, sondern auch Zeitungen und Magazine aus England, Frankreich und Übersee, die zur freien Lektüre auslagen. Bei Bagg’s trafen sich die Studenten und Professoren auf einen Imbiss und die neuesten Nachrichten und Artikel, Karikaturen und Fortsetzungsromane; auf ein Schwätzchen untereinander und leidenschaftliche Diskussionen über Politik, Geschichte, Literatur, Wirtschaft und die Studienbedingungen an der Universität. Diskussionen, die weder von den warnenden Blicken einer Mutter, noch von nachdrücklichen Aufforderungen, Maya möchte in der Küche frischen Tee zubereiten zu lassen, unterbrochen wurden, obwohl die Kannen noch halb voll waren und dies im Grunde Hazels Aufgabe gewesen wäre – Diskussionen in einer Freiheit, nach der Mayas Seele so sehr dürstete und die ihr doch versagt blieb. Denn Bagg’s war wie die Fakultäten der Universität für Frauen tabu – sogar für die Tochter eines angesehenen Professors des Balliol Colleges. Warum nur blieb alles, was den Verstand anregte, den Männern vorbehalten?
Maya wechselte die Straßenseite. In tiefen Schatten lag das Säulenportal des klassisch gehaltenen Clarendon Buildings, in dem die Registratur der Universität untergebracht war. Die Statuen zu Ehren der neun Musen rings um das steinerne Satteldach, die Maya von klein auf fasziniert hatten, schienen sich Kapuzenumhänge aus dem Lavendelgrau des Himmels übergeworfen zu haben. Sie lief entlang des hohen Zaunes aus schmalen Eisenstäben, nahm schwungvoll die paar Stufen vor der geöffneten Gittertür und eilte über den kleinen Platz an der Rückseite des Clarendon. Geradeaus ließen sich die Konturen des Sheldonian Theatres erahnen: ein ovaler Bau, dessen hintere, plane Front wie abgeschnitten aussah und in dem Konzerte, Vorlesungen und festliche Anlässe des Universitätslebens stattfanden. Maya war einmal mit ihrem Vater die Wendeltreppe in die Kuppel des Sheldonian hinaufgestiegen. Von dort hatten sie durch die großen Fenster einen herrlichen Blick gehabt: auf all die graubraunen Dächer, die Türmchen und ziselierten Fialen, die Zinnen und Kuppeln der Stadt. Über die Mauern, die am Tag so warm und golden aus sich heraus strahlten, im Mondlicht jedoch silberweiß glänzten. Über die samtigen Grünflächen und Gärten, die beiden glitzernden Flüsschen, die Oxford umrahmten, den Cherwell und die Isis, die sich erst ein paar Meilen weiter zur Themse verbreiterte, bis hin zu den bewaldeten Hügelkuppen ringsum. Es waren Gebäude wie das Sheldonian und das Clarendon, mit Anklängen an den Stil der alten Griechen und Römer, die Oxford so ewig wirken ließen. Gebäude wie die der Colleges mit ihren weitläufigen Flügeln und zierlichen Aufbauten. Ganz so, als sei die Zeit hier stehen geblieben, auf dieser Insel jahrhundertealter Tradition in der fortschrittlichen Ära Königin Viktorias.
Und auch der gewaltige Gebäudekomplex, turmbewacht und von zarten Steinspitzen gekrönt, auf den Maya nun zustrebte, ließ einen sich kaum mehr als einen Wimpernschlag von der Zeit der Tudors und Stuarts entfernt fühlen, in der dieser errichtet worden war. Ihre Schritte hallten laut wider, als sie durch einen Torbogen in den quadratischen Innenhof trat. Aus einzelnen Bleiglasfenstern ringsum drang mattes Licht, beleuchtete Mayas Weg über die Steinplatten, die ein sorgsamer Hausmeister weitestgehend von Schnee und Eis befreit hatte. Gewaltig erhob sich darüber die vierstöckige Gebäudefront, deren Stein so behauen war, dass sie wie aus Holzlamellen wirkte. Nicht das Hauptportal unter dem imposanten Rundbogenfenster war Mayas Ziel, sondern der linke
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