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Unter dem Safranmond

Unter dem Safranmond

Titel: Unter dem Safranmond Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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möchte nur rasch etwas nachschlagen«, bat Maya beharrlich.
    Professor Reay klemmte eines der beiden Bücher unter die Achsel, schob sich mit der Kuppe seines knochigen Zeigefingers die Brille auf die Nasenwurzel und zog unter dem Talar eine Taschenuhr hervor. Angestrengt spähte er auf das Zifferblatt. »Ich fürchte, Dr. Bandinel wird vor seinem Tee noch nach dem Rechten sehen wollen. Reicht Ihnen eine halbe Stunde?«
    »Danke«, flüsterte Maya, und der Bibliothekar antwortete mit einem verschwörerischen Zwinkern, das den feinen Faltenkranz um seine Augen vertiefte. Der immer liebenswürdige, hilfsbereite Reay, der für jeden ein freundliches Wort hatte, war die bevorzugte Zielscheibe von Bandinels Boshaftigkeit. Und Maya hegte schon lange den Verdacht, dass Reay ihr nicht nur deshalb so bereitwillig dabei half, sich heimlich in die Bibliothek zu stehlen, weil er sie mochte. Sondern auch, weil er dadurch seine eigene stille, kleine Rache an Dr. Bandinel nehmen konnte.
    Leichtfüßig überschritt sie unter den starren Blicken der Büsten Bodleys und Charles I. die Stufe hinunter zum alten Lesesaal, der wie der Querbalken eines großen »H« die beiden anderen Bibliotheksräume abseits des Hauptgebäudes um den Innenhof verband: das Arts End am Eingang und das Selden End auf der anderen Seite des Lesesaals. Bücherregale ragten von beiden Seiten in den mit Binsenmatten ausgelegten Raum hinein, schufen so Nischen, die mit Windsor-Stühlen für bequeme Lesestunden ausgestattet waren. Die von außen efeuumrankten Fensterreihen spendeten kaum mehr Licht, sodass die auch sonst düsteren Emporen völlig im Dunkeln verschwanden. Mit jedem Schritt schien aller Kummer, aller Zorn von Maya abzufallen, und als sie im Selden End anlangte, fühlte sie sich beschützt und in Freiheit, in dieser warmen, sanften Stille, wie nur Bücher sie schaffen können.
    Auch hier verteilte sich der Bestand auf zwei Stockwerke: hinter Rundbögen und hölzernen Pfeilern unten; oben auf eine umlaufende Galerie unterhalb der bemalten Kassettendecke. In der Mitte stand ein Tisch, zu beiden Seiten von je einem hohen Bücherschrank mit Nachschlagewerken flankiert. Maya wandte sich nach rechts, wo die Sammlung des Orientalisten Mr. Selden aufgereiht stand, nach dem man diesen Raum benannt hatte. Liebkosend strich sie mit den Fingerspitzen über das narbige Leder in Rot, Gelb, Blau und Grün. Über die darin eingeprägten Goldlettern und das Holz, das diese Kostbarkeiten umgab. Sie ertastete mit Blicken, was sie gesucht hatte, zog den Band heraus und ließ ihn sich wahllos von selbst aufschlagen. Auf den Seiten breiteten sich die fließenden Linien, Schleifen und Bögen der arabischen Schrift aus, dazwischen eingestreute Häkchen und Tupfen. Komplizierte Zeichen einer komplizierten Sprache, die Maya zu lernen begonnen hatte, als Richard Francis Burton gen Mekka aufgebrochen war.
    Mekka, die Geburtsstadt des Propheten Mohammed, die heiligste Stadt der Moslems, »der Nabel der islamischen Welt in der Mutter aller Städte«, verboten für Angehörige anderen Glaubens. Viele Christen hatte das Abenteuer einer Pilgerfahrt in Verkleidung gelockt, und fast alle wurden entlarvt, in die nahe Wüste verschleppt, kurzerhand geköpft und verscharrt. Nur eine Handvoll kehrte zurück und konnte berichten, darunter nun auch Captain Richard Francis Burton. In langen, fließenden Gewändern, den Schädel kahl geschoren und vollbärtig, das Gesicht mit Walnusssaft gefärbt, hatte er den gleichen gefahrvollen, kräftezehrenden Weg beschritten, den Scharen von Gläubigen jedes Jahr um dieselbe Zeit auf sich nahmen. Aus der gesamten moslemischen Welt strömten sie herbei, aus Afrika, von der arabischen Halbinsel, aus dem Osmanischen Reich und vom indischen Subkontinent, um an der Kaaba zu beten, dem fensterlosen, würfelförmigen Gebäude im Hof der Hauptmoschee, der Legende nach von Abraham erbaut, mit einem schwarzen Stein in der südöstlichen Ecke, den Abraham vom Erzengel Gabriel erhalten hatte. Und dort betete Richard Francis Burton, noch in Indien zum Schüler der islamischen Mystik des Sufismus geworden, nun selbst ein Sufi, und fühlte sich im Islam mehr zuhause, als er es je im Christentum gewesen war. Er betete auf Arabisch, das er sich noch als Student in Oxford selbst beigebracht hatte. Eine Sprache, die er ebenso fließend beherrschte wie Altgriechisch und Latein, wie Französisch und Italienisch, wie Hindustani, Gujarati, Marathi, Sindhi und Persisch –

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