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Unter dem Zwillingsstern

Titel: Unter dem Zwillingsstern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tanja Kinkel
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Atem drang in einer kleinen dünnen W olke aus ihrem Mund.
    »Es ist so kalt hier draußen«, sag t e Robert und bot ihr da m i t einen W af f enstill s tand an.
    »In der Küche ist es warm«, entg e gnete Carla vorsichtig. Rücksicht war ihr fre m d, aber sie hatte das Gefühl, ihm etwas zu schulden, und entschied, daß er doch m ehr als ein hoffnung s loser Angeber sein mußte.
    »Laß uns reingehen.«
     
    Für Käthe B r od wurde dieser Novembertag aus G r ünden, die nichts m it ihrer S chülerin zu tun hatte n , zutiefst erinnerungswürdig. Der unver m eidliche Tadel ihres Arbeitgebers wurde durch das Auftauchen des aufgeregten P r okuristen s e iner Fabrik unterbrochen. Das, worauf sie seit dem Streik der Rüstungsarbeiter im Januar gehofft hatte, war eingetreten, zu m indest in Bayern; der Sozialistenführer Kurt Eisner hatte einen republi k anischen Freistaat ausgerufen. Sie hielt den Atem an, hütete s i ch a b er, in Gegen w art von Herrn Fehr etwas zu sagen. Alles, was Heinrich Fehr über Eisner geäußert hatte, war Erleichterung gewesen, daß m an »diesen zugereisten Schlawiner aus Berlin« nach dem von ihm angeführten S treik das Handwerk gelegt habe.
    »Eingesperrt, wie es sich gehört«, hatte er befriedigt geschlossen, und Käthe spürte nicht zum ersten Mal die Erbitterung darüber, ihren Lebensunterhalt bei einem Reakti o när verdienen zu m üssen. Ihre eigenen Ansichten hatten sich im Verlauf des Krieges radikalisiert, aber selbst wenn sie n o ch die uner f ahrene jun g e Frau der Vorkrieg s zeit gewesen wäre, hätte sie doch begriffen, was hinter Herrn Fehrs Gerede von den »vaterlandslosen Gesellen« steckte. Er war Heereslie f era n t .
    Sie hatte im Februar ge m eins a m m it ihren Freundinnen an der Kundgebung auf der Theresienwiese teilgenommen, die sich gegen jene richtete, die den K r ieg aus r e iner Profitgier verlängerten, aber Käthe war sich nur zu bewußt, d a ß ihr Gewissen auch nicht unbelastet war. Mit etwas m ehr W ut würde sie kündigen und wieder versuchen, von i h ren Artikeln zu leben. D i e Presseze n sur würde jetzt bestim m t bald aufgehoben werden, und die Münchner Post h atte zu m indest zwei der unzä h ligen Aufsätze, die sie in den letzten Jahren geduldig geschickt hatte, akzeptie r t und abgedruckt, wenn auch unter einem Pseudony m .
    Die Scham über m angelnde Courage kä m p fte gewöhnlich m i t ihrer Erinnerung an das Hungern in einer W ohnung ohne W aschgelegenheit, d i e sie m it drei w eit e ren Fra u en teilen mußte, aber sie war zu aufgeregt, um realistisch denken zu können. Die so lang herbeigesehnte Revolution war da, und gewiß nicht nur in Bayern. Das m ußte auch das Kriegsende bedeuten, d a s m ußte es einfach. Einer ihrer Brüder war bereits gefallen, ein a nd erer war a l s Invalide zurückgekehrt, und trotz der Kluft zwischen ihr und der F a m ilie teilte sie die Angst ihrer Eltern um den dritten, der sich immer noch in Frankreich befand.
    Es war schwer, sehr schwer, sich unter diesen U m ständen auf das Unterrichten zu konzentrie r en. Immerhin ließ si e die Begeisteru n g über die Nachricht ungewöhnlich nac h sichtig auf die katastrophalen W i ssenslücken reagieren, die sie bei dem jung e n König vorfand. Er hatte nicht die geringsten Kenntn i sse in Mathe m atik und bekundete ohne Verlegenheit völlige Ignoranz in bezug auf die europäischen Hauptstädte, abgesehen von London und Paris. Es war um so verblüffender, als er offenbar über e i n hervorragendes Gedächtnis verfügte; er rezitierte ihr nicht nur Gedichte, sondern ganze Theater m onologe, und als sie nachprüfte, ob er auch verstand, was er da dekla m ierte, beschrieb er den Inhalt von Don Carlos so enthusiastisch, daß er an einer S t elle auf das Pult kletterte.
    Nachdem sie ihre Pflicht getan und versucht hatte, ihm einige m athe m atische Grundregeln zu erklären, während Carla gelangweilt zuschaute, brach der Damm, m it d e m sie ihre innere Bewegung im Zaum hielt, endgültig zusam m en.
    » W as für eine Staatsform haben wir ? « fragte sie.
    »Die Monarchie, Fräulein Brod«, entgegnete Carla höflich.
    »D e m ist nicht m ehr so«, sagte Käthe und gab den Versuch auf, ihre Begeisterung zu verschleiern. » H eute ist ein historischer Tag. Der Vorsitzen d e der USPD, Herr Eisner, hat das Land Bayern zum Freistaat deklariert, zum Frei s t aat m it einer rep u blika n ischen Verfassung.«
    Die Kinder sahen eher verblüfft als gebührend beeindruckt drein.

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