Unter Den Augen Tzulans
»Deine Eltern haben doch ein paar Münzen, mit denen sie deinen Schaden decken können?«
»Ich lebe bei meinem Ziehvater und meiner großen Schwester«, korrigierte Lorin niedergeschlagen. »Aber wir sind arm. Und sie sollen nicht wissen, dass ich gestohlen habe.«
»Dein Pech, Knirps. Wir gehen jetzt zu deiner Behausung.« Der Fremdländler gab ihm einen Schubs, dass er nach vorne taumelte. »Wegrennen bringt nichts. Ich finde dich«, fügte er kalt hinzu.
Schweigend liefen sie hintereinander; die Bewohner, die ihnen entgegenkamen, machten Platz und schauten dem ungleichen Paar hinterher.
Irgendwann wurde es dem kleinen Führer langweilig. »Wo kommst du her?«, erkundigte sich der Junge, während er den Riesen auf Umwegen durch die Straßen leitete. Vielleicht fiel ihm unterwegs etwas ein, wie er den Mann loswerden konnte. »So einen wie dich habe ich noch nie gesehen.«
»Von weit her«, lautete die lakonische Antwort. »An dieser Stelle waren wir vorhin schon. Wenn du irgendwelche Tricks versuchst, Knirps, schleife ich dich durch Bardhasdronda, bis dein Ziehvater dein Geschrei hört und angelaufen kommt.«
Der Riese schien enorm wachsam zu sein. Seufzend machte er sich auf die direkte Route zur Hütte. »Ich heiße Lorin.« Sein Begleiter schwieg beharrlich. »Ich wohne am Rand der Stadt. Und du?« Wieder keine Reaktion. »Du siehst aus wie einer von der Miliz.« Er lief rückwärts, um den Mann nochmals zu begutachten. Prüfend kniff er die blauen Augen zusammen. »Normal siehst du wirklich nicht aus.«
»Du auch nicht, Knirps.« Der Fremdländler ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Du bist mickrig und hast blaue Augen. Kalisstri haben grüne.«
»Die habe ich von meinem Vater«, verkündete der Junge stolz. »Aber er lebt nicht bei uns. Der ist weit weg, hat mich sitzen lassen, nachdem meine Mutter gestorben ist.«
»Wie traurig.« Der Hüne wirkte nicht wirklich betroffen. Er betrachtete den Knaben zwar eher gleichgültig, wenn auch mit einem gewissen Hauch von Interesse. »Dein Vater war wohl auch ein Fremdländler?« Lorin nickte eifrig. »Krämer, was?«
»Nein. Ein König oder so etwas«, erklärte der Junge gelangweilt und hüpfte nun wieder mit dem Rücken zu seinem Begleiter.
»Natürlich«, knurrte der Mann, der Panzerhandschuh schloss sich klackend um die Gürtelschnalle. Das machte den Knaben wieder aufmerksam.
»Warum trägst du nur einen Handschuh?«, wollte er wissbegierig wissen.
»Weil es mir so gefällt«, gab sein Begleiter entnervt zurück. »Und nun halt den Mund. Wenn wir nicht innerhalb der nächsten Minuten bei eurem Haus angekommen sind …«
»Da sind wir doch schon«, beruhigte Lorin den Riesen eilig. So genau wusste er noch nicht, wie er Matuc und Fatja seine Delikte beichten sollte. Sie würden auf alle Fälle enttäuscht von ihm sein, und das machte ihn traurig. »Wie teuer wird es?«
»Sie werden es sich leisten können, Knirps.« Die eisgrauen Augen ruhten auf dem Jungen. »Stiehlst du öfter?«
»Das sage ich dir nicht«, gab Lorin bockig zurück und hüpfte zur Tür, um anzuklopfen. Das Holz schwang zurück, und eine junge Frau mit halblangen schwarzen Haaren und braunen Augen wurde sichtbar.
»Wo kommst du denn her, kleiner Bruder?« Sie beugte sich nach unten, fuhr dem Knaben durchs Haar und erteilte ihm einen leichten Klaps an den Hinterkopf. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht.« Sie hob ihr Antlitz. »Und wen hast du uns mitgebracht?« Die Augen weiteten sich, als sie den Besucher genauer betrachtete. »Waljakov?«
»Die kleine Hexe?« Der Leibwächter erkannte das Mädchen wieder.
»Ihr kennt euch?«, fragte Lorin vorsichtig, dann drückte er sich an der Borasgotanerin vorbei und verschwand in der Kate. »Ich sage Matuc Bescheid!«
Fatja warf sich Waljakov mit einem Schluchzen um den Hals und drückte ihn an sich.
Der ansonsten so gefasst und gefühllos wirkende Mann schluckte schwer und erwiderte die Begrüßung, wobei er die junge Frau ein paar Zentimeter vom Boden hob.
Vorsichtig stellte er sie wieder ab, während die Tür vollständig geöffnet wurde und Matuc erschien.
Auch die beiden Männer umarmten sich, bevor alle in die Hütte gingen. Der Junge saß auf einem Stuhl, ließ die Beine baumeln und strahlte. So eine Freude hatte er noch nie in seinem Zuhause erlebt.
Waljakov warf den Rucksack zu Boden und blickte sich suchend um. Aber an den Gesichtern der beiden anderen erkannte er, dass er es sich sparen konnte, nach Norina zu fragen.
Weitere Kostenlose Bücher