Unter den Linden Nummer Eins
wenn er mit einer Droschke vorfuhr. Außerdem war ihm der Bus zum Brandenburger Tor vor der Nase weggerauscht, und der Nieselregen hatte sich in ungemütliche große, pappige Schneeflocken verwandelt. Der Taxichauffeur, von Kundschaft wegen der anhaltenden wirtschaftlichen Flaute nicht gerade verwöhnt, schlug ein Buch zu. Er musterte seinen Fahrgast ausgiebig, als der mit einem Blick auf die Lektüre sagte: »Zum Adlon , bitte!«, und im Fond Platz nahm.
›Nicht unbedingt das Geschäft meines Lebens‹, dachte der Fahrer, aber dann zuckte er mit den Achseln. ›Was soll’s. Immerhin besser, als noch ewig hier rumstehen, vielleicht krieg ich ja vom Adlon eine Anschlußfuhre.‹ Er fädelte sich in den Verkehr ein.
»Ich lege eine Mark drauf, als Schmalz«, sagte Karl. »Die Strecke lohnt ja sonst kaum den Sprit.«
›Er scheint Gedanken lesen zu können‹, dachte der Taxifahrer. Seine Miene hellte sich auf. »Zum Haupteingang Unter den Linden oder Eingang Wilhelmstraße?«
»Ich denke, Haupteingang«, sagte Karl. Ihm fiel auf, daß der Taxifahrer einen starken Akzent hatte, und er tippte auf einen Baltendeutschen. »Lettland oder Livland?«
»Weder noch.« Der Taxifahrer lachte. »Aber die Richtung stimmt.«
»Weiter nördlich?«
»Ja.«
Sie fuhren über die Schloßbrücke. Im Lustgarten hatte sich eine Menschentraube um einen Redner versammelt. Rote Fahnen waren entrollt worden, wollten aber nicht flattern. Zu naß.
»Reval?« versuchte es Karl noch einmal.
»Fast«, sagte der Mann mit einem verschmitzten Gesichtsausdruck. »Ich komme aus Helsinki.«
Karls Interesse an dem Mann war erwacht. Zufällig kannte er das Buch. Hesses Siddharta war nicht unbedingt ein Schmöker für Droschkenkutscher. »Sind Sie Student?«
Der Fahrer nickte. »Im Prinzip schon. Germanistik und Philosophie. Da!« Er zeigte auf die Friedrich-Wilhelms-Universität zur Rechten. »Im Augenblick mehr Philosoph stoischer Prägung, weil ich gezwungen bin, sieben Tage in der Woche auf dem Bock zu sitzen. Ja, im Moment also noch Student, mein Herr, aber Straßenräuber in spe, wenn ich nicht die Semestergebühren und drei Monate rückwirkende Mietschulden bis Ende der Woche zusammenfege – mir also ein mittleres Wunder widerfahren muß.«
Der Redeschwall verebbte, weil der Fahrer gezwungen war, scharf zu bremsen. Ein Bolle-Wagen vor ihnen hatte an der Kreuzung Friedrichstraße eine Milchkanne verloren. Sie rollte scheppernd vor das Taxi. Der Bolle-Fahrer sprang fluchend aus dem Lieferwagen. In der Manteltasche klackerte die Handglocke, mit der er die Kundschaft anlockte und die den Milchfahrern zu ihrem Spitznamen verholfen hatte: Bimmel-Bolle .
Karls Taxichauffeur lehnte sich aus dem Fenster und rief: »Bimmelt ihr neuerdings mit Milchkannen?«
»Halt’s Maul, du Sack!« brüllte Bimmel-Bolle und knallte die Fahrertür hinter sich zu.
»Wahrlich wenig Philosophen in diesen Zeiten unterwegs«, sagte Karl, »geschweige denn weise Fährmänner und geläuterte Brahmanen à la Vasudeva.« Das Taxi preschte auf der gegenüberliegenden Straßenseite am Haupteingang des Adlon vorbei.
»Oh«, sagte der Taxifahrer. »Sie kennen den Siddharta !« Er ordnete sich in die linke Spur ein, um zu wenden.
»Ich hoffe«, sagte Karl, »daß ich meinem Gesprächspartner gleich genug von Siddhartas positiver Ausstrahlung vermitteln kann: daß er mich nämlich sofort anstellt – sonst können wir am Wochenende gemeinsam auf Straßenraub gehen.«
Das Taxi stoppte vor dem Hotel unter der Regenbalustrade. Karl zahlte und gab Trinkgeld. Ihm verblieben genau eine Mark und fünfzig Pfennig, als er den Türhebel nach unten drückte.
»Viel Glück!« wünschte der Fahrer und gab ihm noch einen Scherz mit auf den Weg: »Falls es nicht klappen sollte mit der Stelle: Ich schlage vor, Sonntag gegen Mitternacht, Treffpunkt Heiermann !«
»Einverstanden«, sagte Karl und lachte. Der Heiermann hatte den schlechtesten Ruf, den man als Kneipe haben konnte. Im Heiermann verkehrten die Schlagetots der Weddinger Unterwelt. Noch im Aussteigen schlüpfte Karl aus seinem Mantel und legte ihn sich, gewendet, über den Arm.
Niemand eilte herbei, um Karl die Wagentür zu öffnen oder vielleicht nach seinem Gepäck zu fragen. Der Portier und zwei Pagen kümmerten sich hingebungsvoll um einen menschlichen Fettkloß in einem Ledermantel, der einem blankgeputzten Horch entstieg, rechts und links den Hotelbediensteten Geldscheine zusteckend. Erst als Karls Taxi
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