Unter den Linden Nummer Eins
Stunden Ihres geliebten Wochenendes in ländlicher Abgeschiedenheit. Machen Sie sich schnellstmöglich auf den Weg nach Berlin, und beobachten Sie, wer sich nachher so kurz vor Geschäftsschluß alles in der Wilhelmstraße ein Stelldichein geben wird. Volle Überraschung ist garantiert! Nochmals: kurz vor Ladenschluß wäre am besten.«
»Woher haben Sie Ihre Information …«, hatte Louis Adlon noch fragen wollen, aber der Anrufer hatte bereits aufgelegt.
›Ärgerlich, daß ausgerechnet heute Hedda nicht da ist‹, hatte Louis Adlon gedacht. ›Wenn das eben jemand aus dem Haus war, hätte sie ihn vermutlich erkannt – trotz verstellter Stimme.‹
Er hatte sich den Opel eines Nachbarn geborgt, sein eigener Mercedes war viel zu auffällig, und war umgehend von Neufahrland nach Berlin gefahren. Ab Mitte Avus hatte der Nebel in Richtung Innenstadt beständig zugenommen, und im Tiergarten konnte man dann zeitweilig kaum mehr die Hand vor Augen sehen.
Als Louis Adlon endlich in die Wilhelmstraße einbog, war es kurz vor Ladenschluß. Er bremste vor einem Fußgänger, der aus der britischen Botschaft kam. Es war einer der Legationssekretäre, dem er bei zahlreichen offiziellen Gelegenheiten begegnet war, eine Bilderbuchgestalt wie aus der Londoner City: dunkler Trenchcoat, Bowler, eingerollter Regenschirm. ›Muß sich ja bei diesem Wetter so richtig heimisch bei uns fühlen‹, dachte Louis Adlon und betätigte die Scheibenwischer. Der Engländer hob den Schirm zum Dank, erkannte aber den höflichen Autofahrer nicht.
Es herrschte kaum noch Verkehr im Regierungsviertel. Die verheirateten Angestellten und Beamten der Ämter und Ministerien saßen längst zu Hause beim Abendbrot, während die Junggesellen und die wenigen ledigen Frauen wahrscheinlich auf ein Feierabendbier in einer Kneipe oder einem Café hockten.
Der Opel fuhr ganz rechts und passierte die Schaufenster der Weinhandlung im Schrittempo. Soweit Louis Adlon das Geschäft einsehen konnte, war keine Kundschaft mehr im Laden.
Er fuhr weiter bis zum Haus des Reichspräsidenten und wendete. An der Einmündung der Behrenstraße in die Wilhelmstraße war Halteverbot. Der Opel rollte weiter. Gegenüber der britischen Botschaft fand sich eine Parklücke zwischen einem Lkw-Anhänger und dem dreirädrigen Kleinlastwagen einer Gärtnerei, die das Adlon mit Schnittblumen versorgte und durch den Wirtschaftseingang Wilhelmstraße anlieferte. Louis Adlon stellte den Motor ab und schaltete die Fahrzeugbeleuchtung aus. Dann schlug er den pelzbesetzten Kragen seines wattierten Wintermantels hoch, ließ die Seitenscheibe bis zur Hälfte hinunter und drehte den Innenspiegel so, daß er das Schaufenster der Weinhandlung im Blick hatte, ohne sich umzudrehen. Er mußte nicht lange warten.
Aus der Behrenstraße knatterte ein Motorrad mit Beiwagen und abgeblendetem Scheinwerfer heran und bog in die Wilhelmstraße ein. Das Licht wurde ausgeschaltet, und das Motorrad rollte über die Bordsteinkante vor die Weinhandlung. Der Fahrer stellte das Gefährt direkt neben die Ladentür auf den Bürgersteig. Hinter dem Fahrer saß ein Sozius. Er stieg ab und verschwand im Geschäft. Fahrer und Beifahrer trugen lange dunkelbraune Lederjoppen und Reiterhosen, die in schwarzen Schaftstiefeln steckten, und als Kopfbedeckung glatte Lederkappen. Der Fahrer hatte die Schutzbrille in die Stirn geschoben und rieb sich die Augen. Wenige Minuten später trat der Beifahrer aus der Ladentür. Er hielt eine Holzkiste an die Brust gepreßt, die entweder sehr schwer sein mußte oder sehr zerbrechlich, oder beides, denn bevor er sie verstaute, setzte er sie auf dem Trottoir ab und ging auf ein Knie nieder. Dann erst hob er sie vorsichtig in den Beiwagen. Er bedeckte die Kiste mit einer Regenplane, schwang sich auf seinen Sitz und gab dem Fahrer einen Klaps auf die Schulter. Der zog die Schutzbrille hinunter, ließ das Motorrad langsam auf die Fahrbahn rollen und brauste ohne Beleuchtung Richtung Linden davon.
Als sie an ihm vorbeirauschten, sah Louis Adlon die Hakenkreuzbinden am Oberarm. Er preßte die Lippen aufeinander. Ein Zipfel der Plane, mit der die Champagnerkiste abgedeckt war, flatterte im Fahrtwind.
›Wenn es für diesen Vorgang keinen Beleg im Warenbuch gibt, muß hier schleunigst etwas passieren!‹ dachte er und sah dem Motorrad nach. ›Und wenn, dann aber ganz, ganz dezent. – Mein Gott, sich heutzutage mit der SA anzulegen, das kann ungesund werden, oder schlimmer!‹ Er ließ den
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