Unter der Hand (German Edition)
meiner Schritte verschluckt, und einen kurzen Augenblick lang wird mir meine Anwesenheit – ja, meine ganze Existenz! – fraglich und zweifelhaft, als wäre sie mitverschluckt. Die Nymphe Echo ist arm dran, da sie nur Vorgesagtes wiederholen kann. Aber wie arm dran wäre sie erst, gäbe es nicht einmal den Widerhall. Das käme einer Abschaffung gleich. Äußerte ich dergleichen Franz gegenüber, würde er sofort nachfragen, ob ich meine Tage hätte. So verwahrlosen wir aneinander. Ich bin heute nicht gerade guten Muts, als habe jemand ein Fass mit schwarzer Tinte in mich geleert.
Ich gebe die drei langen Zahlencodes ein, die Alarmanlage beginnt zu blinken. Wie eine Tresortür fällt die Haustür ins Schloss, und ich weiß, dass im Luftzug die langen Farnarme noch einmal hoheitsvoll winken.
Ich komme zu spät zur Nachhilfestunde, Parwiz sitzt schon auf dem Kinderstühlchen und beobachtet mit einer gewissen Schadenfreude meinen Versuch, den langen Schal vom Hals zu lösen, ohne mich dabei zu strangulieren.
Parwiz: Du siehst heute besser aus.
Minna: Sah ich neulich schlecht aus?
Parwiz: Ich übe den Komparativ.
Ich würde ihn am liebsten – Superlativ! – umarmen, den Kerl. Oder ihm wenigstens einmal durch die lackschwarzen Haare fahren und den eigensinnigen Kopf darunter spüren wollen.
Die LERNHILFE heißt nun LernForm, vermutlich waren der Großbuchstabe im Binnenbereich und der Fettdruck von L und F das Ergebnis einer weiteren ausführlichen und kostspieligen Image-Beratung. Den Kaffee gibt es noch immer gratis, allerdings ist auch die Wirkung nicht der Rede wert, weil er dünn und koffeinfrei ausgeschenkt wird. Trotzdem bereitet das synchrone Umrühren, das Milchschaum-Auslöffeln und das Blasen zur Abkühlung Vergnügen, es gehört zum Vorglühen genauso wie Parwiz’ Angewohnheit, ein Spitzerdöschen und einen Radiergummi bereitzulegen, obwohl er keinen Bleistift benutzt. Am Nebentisch sitzt der Grauhaarige mit seiner Schülerin, die schwarz lackierte Fingernägel hat und violette Lidschatten. Er schaut sie ohne Verdruss an, die Nachsicht gibt seinem ganzen Körper etwas Weiches und gleichzeitig angespannt Aufmerksames, sie erwidert seinen Blick kaum und wenn, dann mit einem derartig schnellen Flattern der bunten Augenlider, dass es aussieht wie bei einem Kolibri, der sich flügelschlagend in der Luft hält. Von ihrem Gespräch ist nichts zu verstehen, dafür sind die Abstände zwischen den Tischen zu groß. Aber er wendet den Kopf einmal kurz zu mir und grüßt mit einem angedeuteten Lächeln.
Parwiz schreibt eine Gliederung auf,
Vorspiel
statt Einleitung. Ich sage vorläufig nichts, er ist enttäuscht. Und mault über die Deutsch-Hausaufgabe, er soll erläutern, worin der Einfluss von Autor A auf Autor B bestanden habe. Ich höre ihm zu, selbst von der zähneknirschenden Langeweile erfasst, die er schildert und die mir von Schulzeiten wie eingenistet zurückgeblieben ist. Das Gefühl, der Körper fülle sich mit Sägespänen an, verstopfe, kein Fluss mehr, nur noch Staub und Stillstand. Parwiz schreibt
Hauptteil I-IV
und verziert die römischen Zahlen, bis sie aussehen wie zugerankt. Ich lege meine Armbanduhr auf den Tisch und fordere Parwiz auf, eine Viertelstunde lang Einfälle zu notieren, Argumentationen, Verknüpfungen. Und gebe mich, während er unwillig seinen schwarzen Kopf über das Blatt beugt, meinem durch seine schöne Gegenwart akut aufflammenden Kinderwunsch hin. Aus dem verdorrten, kinderlosen Körper, aus der Niete und tauben Nuss, in der vor Jahren einmal ein Keim verkümmerte, der sich zu einem Sohn hätte auswachsen können, wird ein prangender, tüchtiger Leib, der Raum einnimmt und die Zeit hintergeht. Ein echter Leistungsträger. Ich sehe mich ein kleines Bündel vor dem Bauch tragen, die Füßchen in meinen Händen zum Zeitvertreib massierend, dann einen Dreijährigen unter den Blicken neidischer Mütter auf einer Schaukel anstoßen, bis er – furchtlos – fast die Baumwipfel erreicht, ich sehe mich am ersten Schultag mit dem gelockten Sechsjährigen, der einen Pullunder über einem blau-weiß gestreiften Hemd trägt, als Sinnbild neu angebrochener, ernster Zeiten. Zum Abschluss dieser Super-8-Phantasie sehe ich mich auf dem Beifahrersitz neben dem frischgebackenen Führerscheininhaber, der sich einen Drei-Tage-Bart zum Ausweis des Erwachsenseins und damit der Fahrtüchtigkeit hat wachsen lassen, obwohl er um die Augen herum noch immer aussieht wie der Kleine, der aus dem
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