Unter der Hand (German Edition)
die Erde hat Schlagseite. Es ist widerlich, dass die Benennung von Missständen längst auch zur Litanei derer gehört, die sie mit verursachen oder die ihre Zementierung finanzieren.
Da helfen nur noch List und Schmuggelgeschick und eine
Contradictio in adiecto
: stumme Verlautbarung vulgo heimliches Einschleusen von Schriftgut.
Als ich zu Hause ankomme, ist Franz bereits in der Küche, es riecht verheißungsvoll, und mich erfasst große Dankbarkeit für sein unbeirrbares Wesen. Ich hätte mich längst verlassen. Er trägt die Schürze in den italienischen Nationalfarben, auf dem Latz steht
Non ho una ricetta, sono Italiano
also: Ich koche nicht nach Rezept, ich bin Italiener. Ich platziere einen Kuss auf seinen Nacken, der Haaransatz ist so gerade wie bei einem Chorknaben. Und ich beschließe, mich zu ihm zu setzen und ihm endlich von Lotte zu erzählen. Unter Auslassung der mäzenatischen Vorgeschichte. Als das zufällige Treffen, das es ja auch war. Franz ist der einzige nicht ganz dunkelhaarige Mann, der mir je gefallen hat. Solche kleinen statistischen Erhebungen, die unterhalb und während des Redens stattfinden, gehören für mich zur Lebensfreude. Franz schneidet Gemüse in Julienne-Streifen und sagt in eine Gesprächspause hinein: Lade sie doch einmal ein. Ich nicke, bin aber nicht in Stimmung, das ernsthaft zu erörtern. Ich widme mich lieber Franz.
Franz hat drei Schwestern, damit erklärt er seine große Küchenfertigkeit. Beide Eltern Lehrer, der Vater ein fanatischer Sammler der regenbogenfarbenen
edition-suhrkamp
-Bände. Ein ganzes Zimmer mit deckenhohen Regalen gefüllt und nach der Verlagsfarbenlehre geordnet. Damit erklärt Franz seine zum Rot neigende Haarfarbe. Suhrkamp, nicht Gene. Ich finde das witzig und lache sehr. Zur Verwunderung von Franz, der umgehend gesteht, diese Pointe bereits inflationär eingesetzt zu haben. Bei wie vielen Frauen?, frage ich genauso umgehend zurück.
Mille e tre
. Solche Antworten sprechen, nein, eigentlich alles spricht dafür, mich Hals über Kopf in Franz zu verlieben, es geschieht aber nicht. Zwischen uns bleibt der Zufall unbesiegt. Ich bin angetan, gelegentlich gerührt; mag sein, dass ich mich in so einer Art Liebes-Menopause befinde. Ein Botenstoffmangel. Stattdessen Unbotmäßiges. Oder nicht einmal das. Als ich Franz, gewissermaßen als Gegenmaßnahme, umarme, schüttelt er mich ab, das Messer ist scharf! Vorsicht. Ich bleibe ihm gleichwohl nah, sage, dass ich seit Jahren mittags keine warme Mahlzeit mehr zu mir genommen habe, das ist so eine Werktagsgewohnheit, Kantine, ein Tablett mit Beilagen in den dafür vorgesehenen Vertiefungen – alles in bester, vortrefflicher Ordnung. Meine Tage sind längst keine Werktage mehr, ich bewirke nichts, ich arbeite nur. Waisenkindern bleibt nichts anderes übrig, als sich zu plagen. Umso mehr freue ich mich nun auf die unverdiente Mahlzeit. Ich umarme ihn erneut, diesmal wehrt er nicht ab, das Messer ist beiseitegelegt.
Du bist, flüstere ich ihm ins Ohr, du bist mein Naherholungsgebiet.
Komplimente musst du noch üben, sagt Franz.
Acht
Wir stehen vor dem mächtigen Schreibtisch von Lottes verstorbenem Mann und bewundern die Alarmanlage, wie Lotte das Gerät nennt. Es ist ein eierschalenfarbener kleiner Kasten mit einer Taste und einem Lautsprecher. Die muss man im Notfall drücken, dann ist Lotte direkt mit der Rotkreuz-Ambulanz verbunden. Außerdem trägt sie noch einen Auslöser an einer Schnur um den Hals; wie genau die beiden Geräte verbunden sind, verstehe ich nicht und wage ich nicht zu fragen. Lotte sagt mit einem gewissen Stolz in der Stimme, sie habe mich als die im Notfall zu kontaktierende Person angegeben, ich hätte doch keine Einwände? Ein Schlaganfall käme selten allein. Ich bin zu verblüfft, um zu antworten. Und überwältigt von ihrer augenscheinlichen Einsamkeit. Keine Nichte, keine Cousine, keine zuverlässige Freundin, kein Nachbar und keine Nachbarin? Lotte legt meine Stummheit als Einverständnis aus. Erst beim Hinausgehen sage ich plötzlich und mit lahmer Verspätung: Ja, klar.
Wir gehen die dunkel gebeizte, geschwungene Holztreppe hinauf in den ersten Stock. Vorbei an Stadtansichten, Veduten, Stichen und alten Karten Preußens und Ostpreußens. Zwischen Schlafzimmer und Bad hängt Kant, ein kleiner Mann auf hohem Sockel im leeren Raum, von Königsberg ist nichts zu sehen. Kant hebt die rechte Hand, als wolle er resigniert abwinken: Von wegen reine Vernunft. Lotte lässt mir
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