Unter der Hand (German Edition)
Wickeltuch heraus mit mir Blickkontakt suchte zur Feststellung der Welt. Ich habe von diesem Kind, diesem Sohn, ein sehr genaues Bild. Und ein ungenaues; eine Ultraschallaufnahme aus dem dritten Schwangerschaftsmonat. Mein Sohn zog der Wirklichkeit die Möglichkeit vor. Er blieb ein geträumtes Kind.
Öfter als mir lieb sein konnte, war ich dagegen der Geschmacksverstärker zum Aufpeppen schal gewordener Hausmannskost und nicht die Gewählte, in deren Schoß der Samen getrost und getreu entladen wurde, im triumphalen Einverständnis mit allen zukünftigen Folgen. Ich kann mich allenfalls damit trösten, dass in diesen Verhältnissen jeweils nur die Gegenwart galt, der Moment, der Höhepunkt. Zukunft braucht Ausdehnung, Vergangenheit braucht Raum. Wir – die obsoleten Paare, deren Hälfte ich vorübergehend bildete – hatten stets nur das Hier und Jetzt, das sich Sekunden später bereits als bestreitbar erwies. War da was? Meine Kleidung, jedenfalls einige Lieblingsstücke, halten länger und mehr aus als alle meine Liebesgeschichten; die Tweed-Jacke zum Beispiel saß mit mindestens drei Männern Schulter an Schulter, ohne dass es zum Schulterschluss gekommen wäre. Nur irgendwann zum Schluss.
Minna?
Parwiz?
Wie findest du die Beauvoir?
Ich mag keine kinderlosen Frauen!
Aber du hast doch auch keine Kinder!
Eben.
Parwiz erzählt von seiner verzweigten Familie, von Cousinen und Cousins, Großnichten, Großneffen. Wir sind zu groß für ein Foto, sagt er, zu große Familie. Zwischendurch erinnere ich ihn daran, abhängige – schöne abhängige! – Nebensätze zu bilden. Wie der Herr Kleist?, fragt Parwiz und legt los:
Ich zittere vor Wollust und vor Schmerz, in meine Arme dich, mein ganzes Maß von Glück und Jammer, zu schließen
. Oder so ähnlich. Fügt er hinzu. Stammt auch aus einer Familie,
Familie Schroffenstein
. Haben wir in der Theater-AG gemacht. So was gefällt dir, stimmt’s? Er schaut mich lauernd an.
Ja, das ist ein gutes Beispiel. Die Umarmung schließt sich syntaktisch um Glück und Jammer. Der Satzbau vermittelt die Bedeutung nicht weniger als die Semantik.
Oberstudienrätinnenprosa. Die hat er für seine Bemerkung verdient. Parwiz mustert mich, zupft ein dünnes Häutchen an seiner Oberlippe und sagt ganz ernst: Na, du musst es ja wissen.
Gemeinsam mit der Neubenennung der LERNHILFE in LernForm sind kleine Obstschalen auf den Kindertischchen aufgetaucht, Äpfel und Trauben sowie eine kurze schriftliche Belehrung über den Zusammenhang zwischen Vitamin C, Konzentration und Kreativität. Parwiz faltet aus dem Papier einen Flieger und fährt damit über die Heftseiten auf meine Kaffeetasse zu.
Wohin willst du?
Ich hebe den Zeigefinger, sage
home
, und Parwiz muss lachen, und sagt dann in der knatternden Stimme von
E.T
.: Ich auch, bringen wir es hinter uns.
Darauf schaue ich ihm beim Schreiben zu, der Raum ist still, bis auf das Gurgeln der Kaffeemaschine und das Ticken einer Wanduhr. Draußen wehen die erschlafften Ballons vom Eröffnungstag mit ihren längst ausgewaschenen Farben im schwachen Wind. Ich passe mich an und gebe jeden Versuch auf, mit durchgedrücktem Kreuz auf dem Stühlchen zu sitzen.
Sitz gerade
und
Ellbogen vom Tisch
: Als ich so alt war wie Parwiz jetzt, fünfzehn, waren das die beiden Standardermahnungen während der Mahlzeiten, im Lichtschein einer gewaltigen Lampe mit geweihartig wucherndem Gestänge, deren Gewicht allein die Stimmen dämpfte. An den Halterungen für die flammenförmigen Glühbirnen waren metallene Wachstropfen. Beim Essen der Suppe durfte der Teller nicht zum Hungrigen, sondern nur in die Gegenrichtung geneigt werden, damit nicht der Verdacht aufkäme, man sei gierig. Kartoffeln nicht schneiden,
mit vollem Mund spricht man nicht
, mit leerem allerdings auch nicht, beim Schneiden des Fleischs die Arme am Körper halten, auch hier zur Bezwingung der Gier, aber auch zur Schonung des Nachbarn und überhaupt zur Mäßigung, die sich besonders im Fall von Fleischgerichten durch zurückhaltende, sparsame Bewegungen zeigen sollte. Außerhalb des Esszimmers, der Tapeten, der Perserteppiche und monströsen Sitzmöbel, die leicht drei Lebensspannen durchgehalten hätten, wäre da nicht alle paar Jahre der kolikartige Drang zum Neukauf aufgetreten, draußen also tobte das Leben: Zunge, Stimme, Ellbogen, Messer – alles wurde zur Waffe, um die Tischordnung aufzuheben, das Tischtuch zu zerschneiden. Lange Haare, lange Nächte, kurze Tage. Echte Tropfkerzen.
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