Unter der Hand (German Edition)
Die LPs drehten sich auf dem Plattenteller, in den schwarzen Rillen konspirierten die Verbündeten mit ihren vom Protest heiseren Stimmen. Nichts, so gut wie nichts dringt hinein, in die Ess- und Schlafzimmer, in Köpfe und Herzen der Verdiener und Ernährer. Die Luft steht, die Dauerwelle der Mutter versteinert, stellvertretend. Uns Ahnungslose, halb Erwachsene befiel der noch unbesprechbare Verdacht, dass die heißesten Kartoffeln nicht zu Hause auf dem Teller lagen, sondern in den dunklen Lagerräumen der Republik.
Wir verdrückten uns. In die frischere Luft der Kinosäle,
City Filmtheater, Atelier
, die schönste Abschaffung der eigenen Haut und die, bedauerlicherweise nur vorübergehende, Erlösung vom Minna-Sein. Zwei Stunden lang keine Schadensmeldung, nur Lichtspiel und warme Höhle, in der die Brut, also ich, gedieh.
Parwiz stößt mich an: Lies mal! Er schiebt zwei eng beschriebene Seiten in meine Richtung, steht auf, dehnt und streckt sich, dass sein blasser, flacher Bauch zum Vorschein kommt, der Nabel ist nicht tief, sondern tritt hervor wie bei einem Kleinkind. Hier fängt alles an, und hier bricht die Verbindung ab: Kein Anfang ohne Trennung. Vielleicht magst du den Satz, Vico, er passt ins Notizbuch und ins nächste Gespräch mit der
bellissima germanista
.
Bis zur U-Bahn gehen Parwiz und ich gemeinsam, freundlich schweigend. Bei dem Bäcker im Nachbargebäude steht eine kleine Hintertür offen, an der ein mannshoher Spiegel befestigt ist. Darauf steht in großen Lettern:
So sieht dich dein Kunde
. Parwiz ist sofort angetan, vollführt einen kleinen Stepptanz, zieht Grimassen, alles in doppelter Ausführung, bis eine Verkäuferin kommt und mit pikiertem Blick die Tür schließt. Auch das ist ein schöner Fortschritt der sozialen Marktwirtschaft: dass aus der Nächstenliebe Kundendienst wird.
Das ist das richtige Stichwort: Lotte! Ich sollte mich melden, nach einem geeigneten Nachmittag für das Ausmisten fragen oder Kuchen kaufen und einfach zu ihr fahren. Vielleicht sogar Kuchen für drei und ihr vorschlagen, die Nachbarin dazu zu bitten. Ich bin so in Gedanken, dass ich Parwiz nicht mehr winke, der auf der Rolltreppe nach unten gleitet und zu schnell aus meinem Blickfeld verschwindet. Ich setze mich auf eine der steinernen Bänke, die unter den Ahornbäumen und Akazien des Rotkreuz-Platzes im Halbrund angeordnet sind. Schon morgens meist von den obdachlosen Säufern in Beschlag genommen, die die Plastiktüten mit dem Nachschub an Bierflaschen behutsam zwischen ihren Beinen abstellen, bevor sie sich mit verzerrtem Gesicht – Gicht, Rheuma, Weltschmerz, Leber – auf die harte Sitzfläche fallen lassen. Täglich spielt irgendein Straßenmusikant Akkordeon oder jemand geigt, singt oder zupft die Gitarre. Heute müht sich eine eindrucksvoll massige Sängerin mit dramatisch bis zum Po reichendem, geflochtenem Haarteil um das
Ave-Maria
. Ergriffene Zuhörer, von meiner Bank aus habe ich den Brunnen in der Mitte des Platzes im Blick. Die dünnen Fontänen spritzen hoch, als folgten sie den schrillen Tönen der Sopranistin, deren Begleitmusik aus dem Ghettoblaster zu ihren Füßen scheppert. Der Mann auf der Nachbarbank, einer der Älteren aus der Gruppe, fährt sich bedächtig mit einem Kamm durch das Haar. Danach bleiben die Bahnen des Kamms sichtbar wie modelliert. Er nickt beifällig, als die Sängerin sich zum Schlussapplaus verneigt, und setzt die Flasche an. Gebenedeit.
Die U-Bahn, die einige Meter unter unseren Füßen durch die Tunnel rauscht, bringt den Boden zum Erzittern; jedes Mal aufs Neue ein alarmierendes Gefühl, so, stelle ich mir vor, kündigt sich das Jüngste Gericht an, die Höllenfahrt, das Weltende. Im Unterschied zur Gruben- und Schwarzfahrt, die lautlos und klammheimlich vonstatten geht. Mir ist klar, dass dies eine Phantasie ist, die bei
Warner Brothers
oder
Metro-Goldwyn-Meyer
schon lange im Angebot ist. Und ich bin der Filmindustrie dankbar, dass sie doch die meisten der Schrecken in handliche Untergangsbilder bündelt, die Jahr um Jahr aktualisiert werden und immer auf der Höhe der Zeit sind. Die Apokalypse ist eine Metapher, die uns von den selbst erschaffenen Geißeln des Jahrtausends ablenkt. Minna, stell dir eine Leiter auf den Rotkreuzplatz und beginne die Predigt! Über Verrohung im Kampf um die Rohstoffe, über die Erpressung mit seltenen Erden, während die Erde schlingert, Crash-Kurs, nein, nicht der Kulturen, sondern der Gewalten. Die Erde ist nicht rund –
Weitere Kostenlose Bücher