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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Leupold
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sein Grab, behalten. Kneifende Hosensäume, heimliches Naschen, Abscheu vor Fleisch, den großen Stücken, dem austretenden Saft. Beckenbodentraining haben die meisten dieser Generation betrieben, ohne es zu wissen: Sich alles verkniffen, Tag und Nacht. Die Nachbarin mit ihren ausladenden Proportionen, die man in der eigenen, an Lottes Küche angrenzenden Küche mit Deckeln und Töpfen auf eine Weise poltern hört, die klar macht, dass sie in Vorbereitung künftiger Genüsse steckt, hat dagegen zwei angriffslustig gereckte Brüste. Rückenschmerzen davon, ja, aber auch Schubkraft. Sie bricht die Vereinbarungen aus Lottes Sicht, sie schränkt sich nicht ein und ruiniert damit ihre Konturen – und die der anderen ihres Alters, also auch ihre, Lottes.
    Für Grottenmolche und Höhlenforscher wie mich ist Sex natürlich Emanzipation; wir konnten die feuchten, noch warmen Laken und Kissen der 68er weiter beschlafen, ohne die Betten bauen zu müssen. Wir sind die Post-Kissenschlachten-Generation. Maximaler Kampfeinsatz: Augenreiben. Dennoch, für mich, die ich mit gläserner Haut, also zerbrechlich und durchsichtig, zur Welt kam, war die geerbte Zügellosigkeit ein Segen, weil unter all den Scherben die zusätzlichen nicht auffielen. Und weil sie unter Lachen wieder aufgesammelt wurden. Es war ein schönes Geschepper, so etwas kennt Lotte nicht – und schon gar nicht als befreiend. Lotte trägt Hosen, damit man ihr nicht unter den Rock schauen kann, nicht, weil sie sie anhaben will. Spontan umarme ich sie im Windfang, wo sie mich verabschiedet. Sie versteift, ich spüre den hartschaligen BH und drücke ein wenig fester. Sie gibt nach und deutet ein Lächeln an: Nächstes Mal müssen Sie mir beim Ausmisten helfen.
    Ausmisten! Noch ein Stall, wir bleiben beim Thema, gerade so, als hätte ich mit dem Wort Pferdewirtin die Wahrheit gesagt, eine Wahrheit, die sich hartnäckig und unter allen Umständen behauptet und gegen die Wirklichkeit durchsetzt. Wie sagt ein berühmter Gedächtnisforscher so passend und schön?
Die Sinnessysteme sind Hypothesenerzeuger
. Oder wir nehmen es metaphorisch, Lotte, dann muss man sich fragen: Mist welcher Geschichte? Willst du defragmentieren, Ordnung auf der Festplatte schaffen, Dateien in den Papierkorb verschieben? Oder moralisch: Beicht-Modus, ich habe gefehlt, Kehraus der Sünden?
    Lotte meint natürlich die Altkleidersammlung.
    Ich gehe durch das ausgestorbene Viertel zur U-Bahn zurück; es ist gar nicht spät, dennoch ist niemand unterwegs. Reine Wohnviertel sind mir ein Graus, alle Bewohner scheinen nach der Rückkehr von der Arbeit in Deckung zu gehen, mit eingezogenen Köpfen auf den Anbruch des nächsten Tages zu warten. Lotte steht nun sicherlich, ein Ohr an die Wand gepresst, und wartet darauf, von der Nachbarin etwas zu vernehmen, das ihr das Recht auf eine schöne Beanstandung erteilt.
    Zu Hause beginne ich mit einiger Wut zu putzen, der Lärm des Staubsaugers erfrischt mich, die Handgriffe, das Auswringen und Ausschütteln, das Bücken und Rücken tun gut, selbst die Kreuzschmerzen sind in ihrer Sinnfälligkeit angenehm. Ich wische die Armaturen in Bad und Küche blank, sodass sie aussehen, als habe noch niemand sie benutzt, ich wische die Böden, bis sie glänzen. Dann koche ich mir einen Pudding, esse ihn brühendheiß und spucke ihn wieder aus. Die halbe Flasche Wein, die ich anschließend leere, während ich mit zufriedenem, aber ungezieltem Blick auf der Zweisitzercouch raste und die Wohnung in Augenschein nehme, behalte ich bei mir. Als Schlafmittel. Jawohl, Vico, nicht jeder Tag ist produktiv und vermehrt, als echter Arbeitstag, die Ressourcen, wie man das ja eigentlich im Kapitalismus sollte. Ich bin nun mal ein subversives Element. Zu viel der Ehre? Als Frühchen habe ich gewissermaßen ein Zeit-Guthaben und kann mir jede Menge Verspätung erlauben. Folglich auch einmal einen verkürzten oder gar ausgefallenen Arbeitstag. Ich nehme aus Vicos Umschlag einen HundertEuro-Schein und stecke ihn ins Portemonnaie. Mit der Gier und Heiterkeit eines Monopoly-Spielers. Nein, ich habe nicht die Schlossstraße gekauft, dafür aber der Prinzessin Taschengeld zugestanden. Für das Fest der Beharrung und der Verschwendung. Das ist kryptisch? Das ist der Wein! Ich will nur noch fernsehen. Unter dem Singsang der gut bezahlten Narren, die ich allerdings nicht mitfinanziere, die Augen schließen und schlummern. Sanft und selig. Ich schlafe auf dem Sofa ein, träume einen Muttertraum.

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