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Unter der Hand (German Edition)

Unter der Hand (German Edition)

Titel: Unter der Hand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dagmar Leupold
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und Nachname und bitte ihn, sie zu besuchen. Sich um Garten und Einkäufe zu kümmern. Ich unterschreibe mit
Deine Mo
. Vielleicht würde sie sich nicht an ihn erinnern, die Gedächtnislücken nehmen zu, sind aber noch immer sporadisch. Ich denke an Parwiz wie an eine Verlustsache. Verluste müssen reklamiert werden.
    Vico protestiert nicht gegen meinen offensichtlichen Mangel an Aufmerksamkeit, sondern verschlingt mit drei unglaublich riesigen Happen das Tortenstück, das die Kellnerin, zusammen mit zwei Kännchen Kaffee, beschwingt auf silbernem Tablett herbeigebracht hat. Bei ihr fällt mir das Wort Gevatterin ein, sie ist Lottes Nachbarin ähnlich mit ihrem kompakt verschnürten Oberkörper, dem leicht Kurzatmigen, das dadurch entsteht, und dem Lächeln, das der Welt zu sagen scheint: Es könnte besser nicht sein.
    Ich bewundere eine Werbebroschüre des Abfallwiederverwertungsunternehmens, das Vico vertritt. Er schiebt sie mir so stolz hin wie ein Foto von Auto oder Sohn.
    Zu sehen ist die italienische Flagge, auf der das Grün ausläuft, in das Weiße und Rote hinein, als wäre es flüssiges Waldmeister-Eis:
Italien wird grün
, steht darüber.
    Ich ziehe den dicken Umschlag aus meiner Handtasche und frage: Ist das auch recycelt?
    Vico reißt die Serviette, die er in den Hemdkragen gezwängt hat, mit echtem oder gespieltem Entsetzen heraus und wirft sie auf den Tisch.
    Mein Blut klebt daran, ruft er, so laut, dass ich mich beschämt nach der Kellnerin umschaue. Die tippt Zahlen auf einem kleinen Bildschirm ein und schenkt uns nicht die geringste Aufmerksamkeit.
    Mein Blut, wiederholt Vico, ruhiger, mein Herzblut, das ich in diese Arbeit investiere, die Italien in Sachen Umweltschutz und Müllverwertung an die Spitze Europas setzen könnte!
Sono un stacanovista
. Mein verständnisloser Blick nötigt ihn zu der Erklärung: Stachanov war ein sowjetischer Minenarbeiter in den dreißiger Jahren, der das Plansoll erfunden beziehungsweise übererfüllt hat.
Haumesser
! (auf Deutsch): Ich bräuchte Abertausende von virtuellen Haumessern, um das Dickicht, das sich aus Phlegma und Gewissenlosigkeit gebildet hat, zu durchschlagen.
    Er redet und redet.
    Ich spüre die Vibration meines Handys in der Handtasche; wie jedes Mal berührt es mich auch dieses Mal eigenartig: Als ginge so der Wunsch der Fingerspitzen, Übersetzer zu sein, in Erfüllung.
    Wird erledigt, Chefin. P
steht auf dem Display.
    Vico trinkt den letzten Schluck des Kaffees mit gepeinigtem Gesicht aus und bemerkt, dass der Kaffee der einzige Grund sei, aus dem er Italien als Wohnort Deutschland immer noch vorzöge.
    Ansonsten seid ihr unschlagbar.
    Ich habe keine Ahnung, welche Miene ich dazu machen soll. Vico gegenüber fühle ich mich ständig meines Gesichts beraubt: Nicht nur weiß ich nicht, wer mir gegenübersitzt, sondern auch nicht, wer ihm gegenübersitzt.
    Er nimmt beide meine Hände in seine: Glücklich?
    Als ich nicht antworte, sagt er: Sieh es als Stipendium. Du zahlst es mir zurück, nur in einer anderen Währung, dem Wort. So funktioniert Gesellschaft. Immer noch: Tausch.
    Er klatscht in die Hände, als hätten wir einen erfolgreichen Geschäftsabschluss erreicht, und kippt mit dem Stuhl nach hinten, um die bessere Minna-Totale zu haben.
    Warst du nicht eine Frühgeburt?
    Woher weißt du das?
    Er lacht über die Entgeisterung in meiner Stimme und sagt leichthin, ich habe es ihm in Italien erzählt, vermutlich mit mehr als einer Promille Alkohol im Blut.
    Du hast den Staat viel gekostet, Frühgeburten sind teuer, Fettleibigkeit und Depressionen auch, nun kannst du das in dich Investierte immateriell zurückgeben. Glückliche Menschen werden seltener krank, partizipieren in höherem Maße und bilden den Mörtel einer gesunden Gesellschaft. Du stärkst das Gemeinwohl.
    Das Geld kommt doch von dir!
    Glaub mir, ich verdiene daran: Ich bereichere mich ungemein.
    Vico winkt die Kellnerin heran, bestellt zwei Gläser Champagner – den besten.
    Auf der Tischplatte beginnt sein Handy erneut zu vibrieren, vollführt einen regelrechten Veitstanz. Vico liest, fahl, der Löwenzahn wird unter der bedenklich hochgezogenen Oberlippe sichtbar. Dann springt er auf, bittet um Entschuldigung und geht beinah hinkend quer durch den Raum zu den Toiletten. In seinem Gemurmel kann ich ein Wort mit zahlreichen a ausmachen,
Prostata oder vecchiaia
(Alter) oder vielleicht auch
aragosta
(Hummer).
    Der Champagner wird gebracht, in kältebeschlagenen, langhalsigen Gläsern,

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