Unter der Hand (German Edition)
gestellt habe und die Antwort bereits kenne.
Es hätte auch jemand anderes sein können, damals, sagt Vico.
Damals?
Im Sommer, als wir uns trafen. Aber jetzt nicht mehr, jetzt bist du es. Nichts Geheimnisvolles steckt dahinter. Lass uns aufbrechen, Berlin ist ungeduldig.
Ich bin beeindruckt, Vico schafft es immer, das ihn selbst Bewegende den äußeren Umständen (oder seinem Gegenüber) zuzuschreiben. Er hat Eile, folglich ist Berlin ungeduldig. So wird aus seiner jeweiligen Verfassung der Zustand der Welt. Er ist ein echter Potentat. Aber kein Mephisto, Seelen interessieren ihn nicht. Und er wird keine Zeile lesen. Erleichterung erfüllt mich, ich spüre es körperlich: Als würde ein heißes Getränk die Speiseröhre hinabgleiten und meine Eingeweide wärmen. Heinrich bleibt mein Schmuggelgut, in mir daheim, so wie die vom Dealer verschluckte Droge. Für alle anderen: nach unbekannt verzogen.
Vico hat sich für eine Ausstellung über Zwangsarbeit im Dritten Reich entschieden; wir machen uns also auf den Weg ins Jüdische Museum. Unterwegs erläutert er mir seine Beweggründe: Man lerne ein Land nur dann kennen, wenn man auch seine schmutzigsten Seiten besichtige. Italien, fügt er hinzu, Italien braucht dafür keine Ausstellungen, ein Besuch, eine Reise reichen.
Die Räume sind dunkel, erleuchtet allein durch das Licht in den Vitrinen und Schaukästen. Mir ist nicht gut. Ich halte mich in Vicos Nähe, ohne mit ihm zu sprechen. Alle Besucher flüstern und haben den gekrümmten Gang von Beladenen. Vico geht die Exponate gemessenen Schritts ab, nirgends bleibt er stehen, nirgends beschleunigt er. Er bittet mich nicht um Übersetzung – obwohl er auch Englisch kaum versteht –, und ich bin froh darüber, schweigen zu können. Eigentlich müsste man, um etwas zu erfahren, nicht nur stehenbleiben, sondern sich auch herabbeugen und die Bildunterschriften sowie die Erläuterungen lesen. Aber wir verhalten uns eher wie bei einer Parade; nur dass wir nicht eine Armee inspizieren, sondern ein Jahrzehnt deutscher Geschichte.
Folglich überholen wir die meisten, erst im letzten Raum verlangsamt Vico und hält vor einer Vitrine inne, in der ein großes Messer gezeigt wird. Was ist das?, fragt er.
Ich lese vor:
Haumesser des Reichsarbeitsdienstes, ca. 1937
. Aufschrift:
Arbeit adelt
.
Daneben: Fotografien von Zwangsarbeitern bei der
Dreckwäsche
, magere, schmutzige Körper, entkräftet von der unsinnigen Schwerstarbeit, den Asphalt zu schrubben –
lauter kleine Neros
steht auf einem Zeitungsausriss. Vico verharrt und starrt, ich habe keine Ahnung, was in ihm vorgeht.
Übersetzt du es mir?, fragt er schließlich.
Ich mühe mich mit
Haumesser
ab, gestikuliere, imitiere kräftige Schläge und lasse
Reichsarbeitsdienst
unübersetzt, Vico wiederholt das Wort ehrfürchtig und falsch.
I Tedeschi!
, ruft er schließlich aus, die Deutschen! Und ich weiß nicht, ob das, was in seiner Stimme mitschwingt, Bewunderung oder Entsetzen ist.
Was für ein Messer!, fügt er an, noch immer stehen wir vor derselben Vitrine. Arbeit als Waffengang, Arbeitersoldaten, ist ja eigentlich egal, ob es um Landgewinnung oder Gewinnung von Märkten geht, um Vernichtung oder um Gestaltung … Vico spricht vor sich hin, als diktiere er – nein, er diktiert tatsächlich! Er hält das kleine Diktaphon in der Hand, nah an den Mund geführt, und nimmt mich nicht wahr.
Ich plappere aus Hilflosigkeit. Was besichtigen wir hier eigentlich? Uns selbst. In zufällig während unserer irdischen Verweilzeit nicht wieder eingetretenen Umständen. Ich entschuldige mich bei Vico und gehe zu den Toiletten. Der Raum ist nach dem Halbdunkel der Ausstellung blendend hell, und mein ausgeleuchtetes Spiegelbild, das eine knittrige Minna zurückwirft, trifft mich so hart, dass ich mich abwende. Ich schließe mich in einer Kabine ein und wähle Lottes Nummer.
Schuchardt.
Lotte? Ich bin’s, Minna. Wie geht es Ihnen?
Mir geht es gut, sagt Lotte, Sie müssen bald einmal wieder kommen, der Garten, ganz verwildert! Der Winter wird hart. Mein Kreuz tut weh.
Bestimmt nicht, sage ich, bestimmt wird der Winter nicht hart, es ist ein mildes Jahr. Bis der Winter kommt, haben wir längst alles im Griff. Ich breche ab und setze neu an:
Und wir pflanzen etwas Neues, das den Frost übersteht.
Das müssen wir ja auch, sagt Lotte.
Was?
Den Frost überstehen.
Vico erwartet mich im Eingangsbereich, dort haben sich vor den Durchleuchtungsbarrieren lange Schlangen gebildet,
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