Unter der Hand (German Edition)
sich auf die Seite dreht und Franz’ sanftes Andocken beinahe verschläft. Und natürlich auch seine Antwort: Nichts ist mit dem kleinen Finger, er ist nur ein bisschen zu kurz gekommen. An der Endhaltestelle der U-Bahn weckt mich ein Mann vom Sicherheitsdienst, Heinrichs Statur, dichte, kurze grau-weiße Haare. Ein schöner Schreck, von dem ich mich stundenlang erholen kann, weil die Rückreise in die Gegenrichtung bis morgens um fünf gar nicht anzutreten ist. Und ein Taxi nähme ich nur, wenn es mich zu Heinrich führe.
Ich werde völlig übernächtigt in Berlin landen, möglicherweise eine gute Voraussetzung für ein friedliches Treffen mit Vico. Ich würde Heinrich gern eine SMS schicken, von dieser unbequemen Sitzbank aus, mit Blick auf die grünen und orangefarbenen Kacheln, die der U-Bahn-Station das Aussehen einer öffentlichen Bedürfnisanstalt verleihen. Ich würde, hätte er ein Handy, schreiben:
vergißmeinnicht
. Zwei ebenfalls in den Zeitgräben des öffentlichen Nahverkehrs gestrandete Halbwüchsige beäugen mich amüsiert und denken vermutlich, dass das ältere Mädchen, angeschlagen und schwer verliebt (das sehen sie am Blick, den es auf das Display des Handys wirft), viel von ihnen lernen könnte in Sachen Contenance. Und dass es sich gottlob bei diesem älteren Mädchen nicht um die eigene Mutter handelt, die nach einem Abend voller Talkrunden und Schogetten, feinherb oder zartbitter, längst sicher verwahrt im Tiefschlaf der Benzodiazepine ruht.
Einundzwanzig
Vico hat zugenommen. Er ist im Gesicht glatter, die Falten sind gepolstert, dafür spannt das Sakko unschön über dem Bauch.
Ciao bella, come va?
Als Kind hat einmal ein Busfahrer beim Einsteigen zu mir – blondgelockt und braunäugig – gesagt: Na, du bist mir mal ’ne Kinderschönheit. Und ich habe geantwortet: Selbst Kinderschönheit. Den Impuls verspüre ich auch jetzt. Aber ein Gönner ist nun einmal eine Bescherung und als geschenkt hinzunehmen. Wie Könige oder Köhler.
Wir stehen in der Hotellobby, Vico hat zwei Zimmer reservieren lassen und nennt in schlechtem Englisch unsere Namen. Der Chauffeur durfte dieses Mal zu Hause bleiben; er muss das Spiel der
Fiorentina
im Stadion anschauen, das sein Chef meinetwegen verpasst. Ich erfahre sofort, dass die
Viola
in dieser Saison schwächeln. Vicos Gesicht nimmt bei dieser Information einen gräulichen Farbton an, als sei durch symbiotische Anpassung auch seine Gesundheit in bedenklichem Zustand.
Wir setzen uns in ein Café auf dem Gendarmenmarkt, die Bestellung der Getränke auf Italienisch wird vom pakistanischen Kellner ohne Wimpernzucken entgegengenommen, während ich es mir nicht verkneifen kann, Vico auf die Landessprache hinzuweisen. Vicos Esperanto ist Italienisch.
Er lacht mich an oder aus, ruft
davvero!
und tätschelt mir die Hand: Beruhige dich, alles halb so wild und halb so wichtig. Hauptsache, man versteht sich.
Dann kommt der dicke Umschlag auf den Tisch: Warst du fleißig?
Ich greife danach, erröte, schwitze (so wie vor wenigen Tagen in Gegenwart von Heinrich) und sage wie eine Erstklässlerin: Schon! Willst du bald etwas lesen?
Vico fragt verständnislos zurück, was er denn lesen solle.
Nachdem die Freundin, die Germanistin …
Ich stottere.
Piccola!
Vico ist gerührt. Nein, nein, sagt er, behalte das für dich. Von mir aus
schreib ein Märchen
. Buchhaltung, verstehst du?
Wie ein Prokurist?
So in etwa. Er hält inne und deutet feierlich erst auf sich, dann auf mich:
Menschen wie wir müssen Botschafter sein.
Um Himmels willen! Botschafter wofür? Welche Menschen?
Ich schwitze nicht mehr.
Und Vico sagt zwischen zwei Schlucken Espresso, das Tässchen dabei in die Höhe haltend wie einen liturgischen Gegenstand: Siegreiche Menschen, siegreiche Menschen müssen den Niedergedrückten zur Seite stehen. Das braucht die Gesellschaft, das braucht die Wirtschaft, das braucht der Sport.
Nanu, sage ich, ich wusste gar nicht, dass du so christlich-sozial geeicht bist.
Ich verdiene viel Geld, antwortet er, und ich verdiene es. Ich habe es dir schon einmal gesagt: Ich bin gern Ermöglicher. Und wenn ich tot bin, dann werde ich dem Padrone da oben sagen, dass die kleine Minna, die im kalten München lebt, für ihr Glück und das der anderen hart gearbeitet hat. Ganz unbürokratisch. Dafür aber keinen Tag ohne Kopfzerbrechen.
Vico klopft sich an den Schädel und lässt den Löwenzahn blitzen.
Warum ich?, frage ich, auch wenn ich die Frage schon einmal
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