Unter der Hand (German Edition)
Staus auch vor der Garderobe, alles im milchigen Dunst feuchter Haare und Mäntel: Ein leichter, aber beständiger Regen geht hinter den Fenstern nieder und dampft den Eintretenden aus den ersten Wintermänteln der Saison wie aus den Körpern entwichene Seufzer. Es ist etwas Beunruhigendes, sogar Anrüchiges in dieser Betriebsamkeit, in diesem aufgeregten Eifer, diesem Ansturm des bürgerlichen Berlin, der ja auch mich erfasst hat.
Weißt du, Minna, sagt Vico, als wir unter seinem Schirm die Lindenstraße hinab gehen, die Knie noch weich vom verstörenden Gefälle im Stelengarten des Museums, und ich horche auf, weil er weder
piccola
noch
bella
sagt, weißt du, Minna, du musst Zeitzeuge sein, das ist überhaupt das Wichtigste. Du hast etwas aufgeschrieben, sagst du?
Ja.
Mein
Ja
ist sehr verzagt. Es hat mit dem Festhalten so seine eigene Bewandtnis.
Ohne das in unseren vergänglichen Körpern Gespeicherte ist alles Dokumentarische nichts wert, fährt Vico mit einem Tremolo in der Stimme fort, das die Mühen der gedanklichen Arbeit verrät und mich nach Fluchtwegen Ausschau halten lässt.
Wir verstehen die Vergangenheit nur, und besonders die, wenn wir uns um die Gegenwart kümmern. Leidenschaftlich.
Ich kann nicht entscheiden, ob ich Vico ernst nehmen soll oder nicht. Es könnte sich auch um den Tonfall handeln, den er als Wahlkämpfer einsetzt: beseelt, seriös, menschheitstrunken – ein Mann, der immerhin weiß, wo es nicht langgeht.
Findest du es nicht heikel, Gegenstände wie das Haumesser in einer solch kostbaren Präsentation auszustellen? Wie einen Fetisch, wie eine Reliquie?
Warum?, fragt Vico zurück. Darin materialisiert sich doch anschaulich eine Ideologie.
Es ist zu reizvoll, sage ich. Zu geil. (Wie man ja an deiner Reaktion beobachten konnte.) Das bleibt ungesagt.
Sein Telefon klingelt mit der Melodie der französischen Nationalhymne,
pronto!
, schmettert er, und die Lautstärke verrät, dass er, der Bedachtheit im Vortragen seiner Überlegungen zum Trotz, ziemlich aufgebracht ist. Er steckt das Handy nach mehreren kurzen, etwas freundlicher hervorgestoßenen
bene, bene, facciamo così
zurück in die Brusttasche seines Sakkos. Würde eine Kugel ihn auf Höhe des Herzens treffen, das Telefon würde ihm das Leben retten. Diese Idioten, murmelt er vor sich hin, kaum ist Geld im Spiel, verlieren sie ihren Verstand. Dann wendet er sich mir zu: Sei froh,
piccola
, dass du aus einem Land kommst, in dem die Leute etwas begriffen haben.
Was begriffen?
Vico winkt ab. Sagt dann, als beschließe er eine lange Argumentation: Früher, als wir schön waren, jung waren, da lag uns die Zukunft zu Füßen. Manche sind darüber gestolpert und wundern sich jetzt, dass ihnen die Gegenwart fehlt.
Möglicherweise ist dies eine passable Überlegung – ein echtes Urteil liegt in märchenhafter Ferne. Das hat sicherlich auch mit den Slogans zu tun, dem staatstragenden Ton. Aber auch damit, dass wir uns hier in meiner Heimat befinden und nicht in Italien. Hier bin ich zuständig, hier urteile ich schärfer, hier ist alles hart ausgeleuchtet. Bei den Abendessen in lauer italienischer Sommerluft gehörte Vico einfach zur Folklore der Nacht, auch die schwadronierte, zirpte und fiedelte und ließ zum mediterranen Konzert die Atome und die Glühwürmchen tanzen. Man sollte Ehen niemals im Süden schließen, wo auch immer der Süden für den Einzelnen liegen mag – in Schweden oder in Thailand –, denn im südlichen Licht der Sehnsucht wird der oder die Erwählte so umstrahlt, dass es dann im Norden nur finsterste Enttäuschung geben kann. Wir befinden uns dauerhaft im Norden.
Die Kreuzschmerzen, die bei Museumsbesuchen auftreten, melden sich heftig, ich bin so verspannt, dass mein Gang unsicher wird. Vico wirft mir einen Blick über die Brillengläser hinweg zu – zum Versenden von Kurznachrichten an Geschäftspartner hat er die Brille auf die Nasenspitze geschoben – und sagt fachmännisch: Skoliose.
Angeboren, sage ich, ich bin schon mit einem Fragezeichen zur Welt gekommen.
Und denke an den letzten Museumsbesuch zurück – die Tiffany-Ausstellung – und damit an Lotte. Und fälle eine Entscheidung: Die SMS, die ich schreibe, als wir im geschrumpften Café Kranzler sitzen, in das Vico unter allen Umständen gehen wollte, ist die längste, die ich je geschrieben habe. Parwiz ist ihr Adressat, Parwiz, den ich seit dem Diebstahl nicht mehr gesehen und gesprochen habe. Ich nenne ihm Lottes Telefonnummer, Adresse
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