Unter Deutschen
(Pierre Huss), aber auch mit einfachen Deutschen (»A German Girl«).
Im Sommer 1945 führt Kennedy ein »Europäisches Tagebuch«, in dem er aber nicht bloß datierte Erlebnisse und Gedanken festhält, sondern zusammenhängende Beobachtungen zu einem reportagehaften Reisebericht fügt.
Während des Flugs von Paris nach Berlin sieht der junge Journalist zerbombte Städte und zerschossene Bahnhöfe. Die Hauptstadt, die er kurz vor dem Ausbruch des Krieges besucht hat, findet er »vollständig zerstört«. Er beschreibt die »aschgrauen« Ruinen, den »süßlichen« Geruch der Leichen und die »fahlen« Gesichter der Menschen, die in Kellern hausen. Sein Stil hat sich seit seiner Studienzeit verändert. Er ist ausgereifter und anschaulicher geworden. Den Anblick der Trümmer vermittelt er eindringlich. Gespräche gibt er wieder wie ein Reporter.
Als er bemerkt, dass die Menschen ihre Habseligkeiten in »Bündeln« mit sich herumschleppen, gebraucht Kennedy dasselbe Wort (»bundles«), mit dem er seine erste Deutschland-Reise im Jahr 1937 als Vergnügungstrip eingeleitet hatte (»bundle of fun«), und er gibt ihm eine makabre Bedeutung. Aus den Frauen, mit denen er 1937 geflirtet hatte, sind Vergewaltigte oder Prostituierte geworden, die sichgegenüber den Russen unscheinbar machen oder für die Amerikaner herausputzen.
Systematisch widmet sich der Beobachter den Problemen der Nachkriegsordnung und des Wiederaufbaus in den Besatzungszonen. Sein Bericht handelt von Entnazifizierung, Fraternisierung und öffentlicher Verwaltung. Er diskutiert verschiedene Ansätze, wie die Deutschen zu behandeln seien – als unterworfenes Volk oder als neue Kooperationspartner. Er analysiert die Versorgung mit Lebensmitteln, Kohle und Brennholz, Rationierung und Schwarzmarkt, Infrastruktur und Transportmittel. Er setzt sich mit Kriegsbeute und Währungsfragen – Mark, Dollar, Besatzungsgeld – auseinander. Er präsentiert, ohne indes genaue Quellen zu nennen, Daten und Statistiken.
Inmitten der Ruinen besichtigt er die zerstörten Rüstungsanlagen, aber auch die Potentiale des Landes – insbesondere die Industrie in Bremen und Bremerhaven: Werften, die U-Boote in Serie fertigten, ihre geschickte Verbunkerung und die neueste Technologie der Luftzufuhr. Als ehemaliger Kommandant eines PT-Boots spricht er mit Sachkenntnis, wenn er die Schnellboote der Deutschen als »überlegen« bezeichnet.
Die Soldaten der Roten Armee, die der Amerikaner in Berlin und in Potsdam sieht, kommen in Kennedys Typoskript als »roh« vor, häufig betrunken, in schmutzigen Uniformen. Er erfährt, dass sie gestohlen, geplündert und vergewaltigt haben. Eine Deutsche zitiert er mit den Worten: »In vielerlei Hinsicht war die ›SS‹ genauso schlimm wie die Russen.« Die SS so schlimm wie die Rote Armee – nicht umgekehrt: Die Messgröße alles Bösen geben nun schon die Russen ab – und nichtdie deutsche Totenkopftruppe. Das Interesse scheint bereits dem neuen Konflikt zu gelten, der sich mit der Sowjetunion anbahnt.
Allerdings setzt Kennedy sachlich hinzu, auch die Westalliierten hätten sich »viel zuschulden kommen« lassen. Und er bemerkt, die Rotarmisten legten neuerdings eine Disziplin an den Tag, die jener der US-Amerikaner nicht nachstehe. Ebenso lobt er die politische Aktivität in der Sowjetischen Besatzungszone: (sozialistische) Parteien werden gegründet, Zeitungen herausgegeben, Schulen wieder geöffnet.
Da er Deutschland vor dem Krieg gekannt hat, ist Kennedy besonders beeindruckt vom Ausmaß der Zerstörungen, die er aus dem Flugzeug, in den Straßen und in den Werften zu sehen bekommt. Wie viele ausländische Beobachter fragt er sich, welche Auswirkungen die alliierten Bombardements hatten. Haben sie das Ende des Krieges beschleunigt? Haben sie unnötige Opfer gefordert? Journalisten wie Janet Flanner, Martha Gellhorn und Virginia Irwin, die 1945 mit den alliierten Truppen nach Deutschland kamen, konnten als Erste von den Zerstörungen berichten und einschätzen, welche Wirkung sie auf die Moral der Bevölkerung hatten. Autoren wie W. H. Auden und James Stern, die vor der Nazi-Herrschaft in Deutschland gelebt hatten, kehrten nach dem Krieg zurück, um für den U.S. Strategic Bombing Survey die Betroffenen zu befragen, wie sie den Luftkrieg empfunden hätten. Das in seiner verstörenden Komposition eindrücklichste literarische Zeugnis der Traumatisierung schuf Kurt Vonnegut, der den Angriff auf Dresden im Februar 1945 als
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