Unter Deutschen
ihnen – ihre Gesichter farblos, ihre Lippen bleich, ihr Ausdruck leblos und abgestorben, als hätten sie einen Schock erlitten. Manchmal sieht man einen Hund, was unpassend wirkt. Sie werden den Winter nicht überstehen. Die Straßen werden durchschwärmt von russischen Soldaten, die jung, untersetzt, hart, grimmig und schmutzig aussehen. [...] Das Versorgungsproblem ist in Berlin schlimmer als anderswo in Deutschland. Die durchschnittliche Ration entspricht bis zu zwölfhundert Kalorien, was unterhalb des Lebensnotwendigen liegt. Die Stadt Berlin wird als Einheit verwaltet, und alle Bürger – in allen Sektoren – bekommen die gleiche Ration. Der Grund ist offensichtlich. Würden etwa die Vereinigten Staaten ihre 700 000 Menschen besser als die Russen die ihren ernähren, würden hungrige Berliner in Schwärmen in den amerikanischen Sektor kommen. Deshalb wird jedermann in Berlin gleich behandelt. Die Russen haben nicht nur alle Lebensmittel und Maschinen, die sie bewegen konnten, nach Russland gebracht, sondern sie deportieren auch so gut wie alle leistungsfähigen Deutschen zwischen 15 und 60 als Arbeiter. [...] Die Russen haben noch einiges vorsich, ehe sie vom deutschen Volk viel Unterstützung bekommen können. Die russische Armee, die als erste in Berlin eindrang, war eine kämpfende Truppe, und sie ging mit großer Grausamkeit vor. Viele Deutsche, die kommunistische Sympathisanten hätten sein können, wurden so abgeschreckt.«
Aufgrund seiner Reiseerfahrungen ist der Redner in der Lage, zwischen den verschiedenen Landesteilen zu differenzieren, aber er gibt einen gleichermaßen pessimistischen Ausblick: »In den westlichen Städten wie Bremen, Frankfurt und Salzburg haben die Menschen bislang sehr gut gelebt. Sie verfügten über Vorräte an Nahrungsmitteln, mit denen sie ihre niedrigen Rationen ausgleichen konnten, aber bis zum Winter werden diese Vorräte verbraucht sein, und sie werden auf das Lebensnotwendige zurückgeworfen. Es wird keine Kohle geben, und viele Häuser sind zerstört. Dafür, dass sie Hitler gefolgt sind, werden die Deutschen in diesem Winter bezahlen.«
Aus seinen Beobachtungen entwickelt Kennedy Überlegungen für die Nachkriegsordnung: »Wie sieht Deutschlands Zukunft aus? Manche Leute glauben, Deutschland sollte in Fürstentümer aufgesplittert werden oder in Kontrollzonen aufgeteilt bleiben, wie es gegenwärtig der Fall ist. Der Einwand gegen diese Lösung ist, wie Bismarck verstanden hat, dass Deutschland eine geographische und ökonomische Einheit bildet. [...] Andere sagen, lasst die Deutschen sich um sich selbst kümmern, sie sind zu schwach, als dass sie uns jemals wieder gefährlich werden könnten. Aber Deutschland ist nicht in der Lage, irgendeine Art von demokratischer Regierung zu bilden, und ich glaube nicht, dass es für die Vereinigten Staaten besonders wünschenswertwäre, in Deutschland ein politisches Vakuum zu hinterlassen, das die Russen nur zu gerne ausfüllen würden. Ich glaube, wir sollten in Deutschland auf unbestimmte Zeit eine gewisse Kontrolle behalten. Das deutsche Volk wird diese Niederlage niemals vergessen oder vergeben. Das haben die Franzosen nach 1870 auch nicht getan, und ob Nazi oder Nazi-Gegner, es gibt keinen Grund zu glauben, die Deutschen würden das nach ihrer Niederlage von 1945 tun. Vor allem ihre wissenschaftlichen Experimente müssen sorgfältig überwacht werden, denn die Wissenschaft erfährt das Geheimnis der Vernichtung rasch.«
Als er im Sommer 1963 als Staatsoberhaupt zum letzten Mal in das Land reist, bilden diese Überlegungen aus dem Jahr 1945 unausgesprochen einen Hintergrund. In Deutschland wiederum verbindet sich die kollektive Erinnerung an den ermordeten US-Präsidenten heute ganz wesentlich mit jenem letzten Besuch im Jahr 1963 und mit dem vielzitierten Satz seiner Rede, der als pathetisches Bekenntnis zur Freiheit und zur Sicherheit West-Berlins zu verstehen war: »Ish bin ein Bearl ee ner.« Wäre dieser Satz, wäre diese Identifikation denkbar gewesen ohne die Erfahrungen von 1945, 1939 und 1937?
Kennedy kannte das Land vergleichsweise gut. Seine Reisen waren touristische und kulturelle Erkundungen, politische und strategische Studien, ökonomische und soziale Recherchen. Während seiner Aufenthalte entwickelte er eine Empathie für die Deutschen. Er hat sie als Feriengast kennen (und wohl zum Teil auch »lieben«) gelernt. Er hat die Menschen in den Trümmern gesehen. Und er hat sie in seiner Auseinandersetzung
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