Unter goldenen Schwingen
Schulbücher in die Tasche, während hinter uns die anderen Schüler aus dem Physiksaal hinausströmten. Annes Enthusiasmus machte mir ein schlechtes Gewissen.
»Hör mal, ich bin einfach nicht in Stimmung für eine Party. Tut mir leid.«
Anne sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Ungeduld an. Sie schüttelte den Kopf und ihre kurzen blonden Locken hüpften. »Es wird Zeit, dass du aus deinem Schneckenhaus herauskommst. Du kannst dich doch nicht ewig verstecken.«
»Ich weiß«, sagte ich leise.
Genau genommen konnte ich mich überhaupt nicht verstecken. Das, was mich verfolgte, fand mich überall.
Nahezu überall.
»Also abgemacht?«, drängte Anne. »Heute um sieben Uhr im Charley’s?«
»Victoria? Kannst du mir bitte helfen?«
Ich blickte auf. Herr Wagner, der Physiklehrer, sah mich auffordernd an.
»Geh schon vor«, sagte ich zu Anne und ließ meine Tasche auf den Tisch sinken. »Ich komme gleich nach.«
»Warte, bis du die Stiefel siehst, die ich für die Party gekauft habe.« Anne zwinkerte mir zu und verließ mit den anderen Schülern die Klasse. Das Thema war definitiv nicht beendet. Seufzend wandte ich mich zum Lehrertisch.
Herr Wagner, groß und schlaksig, mit runder Hornbrille und blauen Augen, war jenseits der Vierzig, und hatte trotzdem erstaunliche Ähnlichkeit mit einem neugierigen Kind. Seit ich ihn kannte trug er karierte Hemden, die nie ganz in seiner Hose steckten, und eine altmodische Wuschelfrisur, die seinen seltenen Friseurbesuchen trotzig standhielt. Er unterrichtete Physik und Religion mit chaotischer Hingabe, und er war der einzige Lehrer, den ich mochte.
»Ich fürchte, die räumen sich nicht von selbst weg, obwohl Schüler das immer noch zu hoffen scheinen.« Wagner deutete auf mehrere Stapel Experimentierkästen, die wir während der Stunde benutzt hatten, und die sich nun auf dem Lehrertisch türmten. »Tut mir leid, dass ich dich aufhalte«, sagte er, während er etwas unbeholfen einen Kasten nach dem anderen auf seinen Arm stapelte.
»Nicht so schlimm.« Ich schob die Kästen rasch gegen seine Ellenbeuge, als der Stapel zu kippen drohte. Dass ich froh war, dem Geburtstagspartygespräch mit Anne entkommen zu sein, behielt ich für mich – obwohl ich das Gefühl hatte, dass Wagner mich nicht zufällig genau in diesem Moment gerufen hatte.
Gemeinsam trugen wir die Kästen zu der kleinen Kammer hinter dem Lehrerpult. Wagner warf mir einen Blick von der Seite zu. »Schlechter Tag?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Schlechtes Jahr.«
Wagner schwieg. Er betrat die Kammer und hielt mir umständlich die Tür auf, als ich mich hinter ihm hineinzwängte. Der kleine Raum war mit Kisten vollgeräumt und roch nach Staub.
»Mein Geburtstag«, sagte ich.
»Das tut mir leid«, sagte Wagner betroffen.
Ich hob überrascht den Kopf, doch Wagner bemerkte es anscheinend nicht. Er schwieg eine Weile und stapelte seine Kästen auf ein Regal.
»Weißt du, was das Beste an dieser Kammer ist?«, fragte er plötzlich.
Ein wenig überrumpelt blickte ich mich in dem engen Raum um. Die Regale waren bis zur Decke vollgestopft mit alten Büchern und sperrigen Kisten. Von der Decke hing eine einzelne Glühbirne, die hin und wieder flackerte, und es roch nach Generationen staubiger Physikstunden.
»Keine Ahnung.« Ich bemühte mich, nicht unhöflich zu klingen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass irgendetwas an dieser miesen kleinen Kammer ›gut‹ war, geschweige denn ›das Beste‹.
Wagner blickte mich über den Rand seiner runden Brille an. »Der Rest der Welt bleibt draußen.«
»Oh.« Ich sah mich nochmals um. Irgendwie hatte er Recht, und plötzlich erschien mir der kleine Raum viel einladender.
»Jeder von uns braucht hin und wieder so einen Ort«, sagte Wagner. »Einen Ort, an dem alles, was wir nicht wollen, draußen bleibt.«
Ich lächelte schwach. »Wann kann ich einziehen?«
»Ich fürchte, dieser hier ist nur für Notfälle bestimmt. Keine Dauerresidenz.« Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. »Es ist gut, dass du heute trotzdem zur Schule gekommen bist.«
»Ich hatte die Wahl zwischen schlimm und schlimmer.«
»Es gibt ein ›schlimmer‹ als die Schule?«
Ich machte eine vage Kopfbewegung.
Wagner fuhr fort, Kästen in das Regal einzuräumen. »Zu Hause?« Er nahm mir zwei Kästen aus den Armen.
»Mein Vater hat viel zu tun im Büro. Er arbeitet bis spätnachts und ist oft unterwegs.« Ich ärgerte mich über mich selbst, als mir auffiel, wie
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