Unter Verdacht
wird schon werden.«
In diesem Moment kam Sylvia durch die Tür. Ellen winkte ihr zu, während sie Karen zuzwinkerte und sich entfernte.
Sylvia fühlte eine eigenartige Freude in sich aufsteigen, als Karen ihr entgegenkam. Karens fürsorgliche Geste, die kurze Berührung ihrer Hand auf Sylvias Rücken und der flüchtige Begrüßungskuss auf die Wange stellten eine angenehme Vertrautheit her.
»Schön, dass Sie gekommen sind, Sylvia. Ich freue mich wirklich. Was darf ich Ihnen vor dem Essen als Aperitif anbieten?«
»Ich nehme lieber etwas Alkoholfreies.«
»Das lasse ich nicht zu. Wie wäre es mit einem harmlosen Juice-Wodka?« schlug Karen vor.
»Also meinetwegen.« Sylvia gab nach.
Karen führte Sylvia zur Bar, wo sie ihr den Drink mixte. Dabei wies sie nebenher auf den einen oder anderen der Anwesenden, nannte Namen und gab kurze Kommentare ab. Sylvia versuchte interessiert dreinzuschauen. Doch vergaß sie das meiste in dem Moment, da sie es hörte, gleich wieder. Sie konnte sich nicht darauf konzentrieren. Statt dessen folgte sie heimlich Karens Bewegungen, ließ deren leicht herbes Parfüm auf sich wirken, nahm den Klang ihrer Stimme in sich auf.
»Sylvia?!«
»Bitte?«
»Sie haben geträumt!«
»Oh, Entschuldigung.« Sylvia errötete.
»Na ja, meine Schuld. Ich langweile Sie mit den ganzen Namen. Lassen Sie uns bis zum Essen auf die Terrasse gehen. Ich habe es übrigens so eingerichtet, dass Sie in meiner Nähe sitzen, sozusagen vis-à-vis.«
»Danke, aber was ist mit Ihrer Schwester? Sollten Sie sich nicht um sie kümmern?«
Karen grinste. »Das habe ich. Ich habe kurzerhand gestern Abend Leon eingeladen. Leon ist nett und – sein wichtigster Vorzug – schwul. Er ist in seine Aufgabe eingeweiht. Damit hat Ellen den perfekten Begleiter.« Karen blinzelte schelmisch. Sie sah sehr zufrieden mit sich aus. »War das nicht ein famoser Einfall?«
»Wirklich clever von Ihnen«, lobte Sylvia bereitwillig.
Das Essen bestand aus einem Menü in drei Gängen. Man pries brav die auserlesenen Speisen und unterhielt sich ansonsten über das Wetter und vergleichbare bedeutende Dinge.
Ellen und ihr Begleiter hatten ganz offensichtlich noch andere Themen, denn aus ihrer Richtung hörte man ständig heiteres Lachen. Karen triumphierte. Ihr Augenzwinkern in Sylvias Richtung ließ keinen Zweifel daran.
»Candela, das klingt südländisch«, meinte Sylvia, als sie nach dem Essen mit Karen im Garten stand und einen zweiten Juice-Wodka trank.
»Ja. Mein Großvater war ein heißblütiger Spanier.«
»Daher also die charismatische Erscheinung«, rutschte es Sylvia heraus.
»Finden Sie, ich habe Charisma?« Karen schaute Sylvia direkt in die Augen, so dass diese errötete.
»Nun ja. Sie bringen mich dazu, Dinge zu tun, die ich sonst nicht tue«, sagte Sylvia unsicher. Sie merkte, wie zweideutig ihre Bemerkung klang, und fügte schnell abschwächend hinzu: »Zum Beispiel zu fremder Leute Partys zu gehen.« Und mich dabei auch noch wohl zu fühlen, dachte Sylvia . Vor allem fühle ich Dinge, die ich sonst nicht fühle.
Karen musterte Sylvia nachdenklich. »Beunruhigt Sie das?«
»Ein wenig«, gab Sylvia zu. Und um von ihrer Unsicherheit abzulenken, sagte sie: »Sie und Ihre Schwester verstehen sich sehr gut.«
»Ja, aber das war nicht immer so«, erzählte Karen. »Früher waren wir oft eifersüchtig aufeinander.«
»Was hat das geändert?«
Karens Gesicht verdüsterte sich. »Der Tod unserer Mutter, als wir elf waren. Der Verlust des Liebsten, das wir hatten. Unser Vater war schon immer in erster Linie Geschäftsmann. Er verkraftete den Verlust durch Arbeit. Uns konnte er jedoch nicht helfen. Ellen und ich brauchten uns dann viel zu sehr, um unseren Streit fortzusetzen.«
Es entstand eine Pause, bevor Karen fragte: »Haben Sie Geschwister?«
»Nein.«
»Wie war Ihre Kindheit?«
»Nicht besonders schwer, aber auch nicht sehr ausgelassen oder gar gefühlsbetont. Sie war bestimmt durch Regeln, die selten Ausnahmen zuließen. Um die Beziehung zu meinen Eltern bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr zu beschreiben, würde ich sagen, es war keine sehr innige Liebe. Ich kannte die Erwartungen, die an mich gestellt wurden, und versuchte sie zu erfüllen, um Ärger aus dem Weg zu gehen.«
»Ich halte Sie nicht für jemanden, der Problemen aus dem Weg geht. Was hat Ihre Einstellung verändert?«
Sylvia lächelte. »Irgendwann war ich der Meinung, Ärger würde mich in meiner Entwicklung weiterbringen. Ich suchte
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