Unter Verdacht
Karen.
»Seit wann bist du so langweilig?« maulte Leon.
»Heute Abend wollen wir doch ausnahmsweise mal nicht provozieren, Leon, ja?« Karens Augen bohrten sich in ihn.
»Aber ich mag Provokation.«
»Du bist Provokation«, seufzte Karen.
Ellen lachte. »Ja. Der lebende Traum jeder Frau zwischen zwanzig und vierzig, und nicht für diesen Markt verfügbar.«
»Eine Laune der Natur.« Leon seufzte übertrieben theatralisch. »Aber der Markt der Männer zwischen zwanzig und vierzig ist dafür sehr dankbar«, setzte er lakonisch hinzu. Sich an Sylvia wendend entschuldigte er sich: »Ich hoffe, Sie sind nicht schockiert.«
»Was, wenn Sie sich plötzlich in eine Frau verlieben würden, Leon?« fragte Sylvia statt zu antworten.
»Bisher ist das noch nicht vorgekommen. Dennoch eine interessante Frage. Zunächst würde ich es wahrscheinlich nicht einmal merken, weil der Gedanke zu abwegig ist. Dann wäre ich mit Sicherheit sehr verwirrt, geradezu hilflos. Und Sie?«
»Und ich – was?« Sylvia verstand nicht.
»Was, wenn Sie sich plötzlich in eine Frau verlieben würden?«
»Bitte?« Sylvia war völlig perplex ob dieser Frage. »Wie sollte das gehen?«
»Na, wie das eben so geht. Das Herz schlägt schneller, man ist aufgeregt, fühlt Schmetterlinge im Bauch.«
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Okay.« Leon nickte. »Die Vorstellung ist vielleicht zu abstrakt. Stellen Sie sich der Einfachheit halber vor, sie verliebten sich in Karen . . .«
»Leon! Was soll das?« Karen hob warnend die Stimme.
»Sie hat schließlich damit angefangen. Außerdem ist es doch nur eine Annahme«, winkte er lässig ab. »Also. Nehmen wir an, in Karens Nähe fühlen Sie sich wohl, Sie genießen jede Begegnung, jede zufällige Berührung, Sie denken an sie, wenn Sie allein sind.«
Sylvia fühlte Röte in ihrem Gesicht aufsteigen. Leon traf den Nagel auf den Kopf. Dennoch würde sie deshalb nicht sagen, dass sie in Karen verliebt war. »Wenn es so wäre, würde ich sagen, wir harmonisieren eben sehr gut miteinander.«
»Es gibt Ehepaare, die weniger haben«, erwiderte Leon kurz und bündig.
Verwirrt schwieg Sylvia.
Später am Abend nutzte Leon eine Gelegenheit, in der er Karen allein fand, um sie zu sich heranzuziehen, und säuselte dicht an ihrem Ohr: »Ich werde hetero, wenn sie nicht auf dich steht.«
Karen säuselte statt dessen: »Du Ärmster. Oder soll ich besser sagen die Ärmste ? Du liegst nämlich völlig daneben.«
»Das werden wir sehen.«
6.
F reitag Abend rief Sylvias Mutter an und erinnerte, dass sie sie am Samstag zum Mittag erwartete.
»Ja, Mutsch, ich komme. Aber mach nicht wieder so viel! Ich habe nicht die Zeit, ins Fitnessstudio zu gehen, um die Pfunde wieder abzutrainieren.«
»Du dünnes Ding. Von welchen Pfunden redest du denn?«
Sylvia lächelte. Natürlich hatte ihre Mutter eine andere Vorstellung von dünn. Bei ihr hieß es immer, der Mensch braucht eine kleine Reserve für schlechte Zeiten.
Gefasst auf ein kalorienreiches Wochenende fuhr Sylvia Samstag Vormittag los. Nach einer Stunde Autofahrt erreichte sie Rheinsberg und bog kurz darauf in den Vorhof des kleinen Einfamilienhauses ihrer Eltern ein.
Waltraud Mehring kam heraus und begrüßte ihre Tochter freudig. »Schön, dass du mal wieder da bist. Wir haben uns schon so lange nicht gesehen.« Sie zog Sylvia mit sich ins Haus und in die Küche.
»Hast wohl viel zu tun, Kind?«
Während ihre Mutter am Herd wirtschaftete und Wasser für Kaffee aufsetzte, winkte Sylvia resigniert ab.
»Kaum hat man die eine Sache erledigt, bekommt man zwei neue auf den Tisch. Ich weiß gar nicht, wo mir der Kopf steht.«
»Du lässt dich gnadenlos ausnutzen. Sag doch einfach mal nein! Dein Privatleben geht völlig vor die Hunde. Nicht nur, dass du uns kaum noch besuchst, daran haben Vater und ich uns längst gewöhnt. Aber wann warst du das letzte Mal im Kino oder bist zum Tanzen oder Essen ausgegangen?«
»Vorgestern, Mutsch.«
»Ach, du veralberst deine Mutter wieder mal.«
»Aber nein. Ich war eingeladen. Zu einer Geburtstagsfeier.«
»Bei wem?«
»Der Vater einer . . . Kollegin.«
»Welcher Kollegin?«
»Sie arbeitet nicht an der Uni, sondern leitet ein Architekturbüro. Sie hat die Ausschreibung eines Projektes gewonnen, das ich betreue.«
»Wie alt wurde er denn?« Die Frage ihrer Mutter klang skeptisch.
»Ich glaube, fünfundfünfzig, wieso?«
»Na ja, findest du nicht, dass der Altersunterschied etwas groß ist?«
»Aber Mutsch,
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