Unter Verdacht
absichtlich die Konfrontation, besonders zu meinem Vater. Ich erwartete einen heftigen Zusammenprall mit ihm. Er war immer sehr autoritär gewesen. Entgegen meinen Erwartungen geschah nichts dergleichen. Im Gegenteil, er schien darauf gewartet zu haben, dass ich endlich aus mir herauskomme. Ich sah ein, dass er eher begriffen hatte, dass ich erwachsen war, als ich selbst. Und ich lernte ihn von einer völlig neuen Seite kennen. Ich wusste, dass er eigentlich hoffte, ich würde eines Tages in seine Anwaltskanzlei eintreten und diese später übernehmen. Aber er akzeptierte meinen Wunsch, nicht in seine Fußstapfen zu treten und Anwältin zu werden, wenn auch schweren Herzens. Er erzählte mir von seiner Jugend, seinen Träumen und wie er meine Mutter kennenlernte. Die Art und Weise, wie er von meiner Mutter sprach, berührte mich. Und seit diesem Tag weiß ich, dass er sie nach wie vor liebt. Ich hatte ihm bis dahin solche Gefühle nicht zugetraut.«
Karen hatte still zugehört. Dann sagte sie: »Finden Sie nicht auch, dass wir viel zuviel Zeit mit nutzlosen Grübeleien verbringen, anstatt einfach etwas zu tun?«
»Gelegentlich kommt mir der Gedanke – beim Grübeln.«
Jetzt lachten sie beide.
»Und wie sieht es mit Verehrern aus, Professorin?« fragte Karen augenzwinkernd. Zwar hatte sie sich Zurückhaltung geschworen, aber eine harmlose Frage war ja wohl erlaubt. Eine Stimme in ihr flüsterte jedoch: Mach dir nichts vor. Du willst wissen, ob Sylvia einen Freund hat.
Sylvia zögerte mit der Antwort. Ja. Es hatte ein paar Männer in ihrem Leben gegeben. Es gehörte schließlich zu den Regeln, einen Mann vorzeigen zu können. Warum alle Welt von Sex so schwärmte, war Sylvia allerdings schleierhaft. Sie hatte bisher nie wirkliche Lust dabei gefühlt. Aber das war wohl kaum als Thema für diese Konversation geeignet.
»Sie sagen nichts? Gab es niemanden, oder waren es so viele, dass Sie sie nicht zählen können?« fragte Karen keck.
»Und was ist mit Ihnen?« unternahm Sylvia den Versuch, sich mit der Gegenfrage aus der Affäre zu ziehen.
Doch Karen ging nicht darauf ein. »Ich habe zuerst gefragt.«
»Bisher war jedenfalls nicht der Richtige dabei. Meine Freundin Anne sagt, ich wäre zu anspruchsvoll. Möglicherweise hat sie ja recht.« Sylvia zuckte mit den Schultern.
»Wenn es so ist, ist es kein Fehler«, erwiderte Karen.
»Ist Ihre Neugier jetzt befriedigt?« wollte Sylvia wissen.
»Ganz und gar nicht. Ich habe nur den Eindruck, dass ich mehr nicht erfahren werde. Was dieses Thema betrifft, scheinen Sie nicht sehr mitteilsam.« Sie hat keinen Freund!
»Es ist ein sehr persönliches Thema«, gab Sylvia zu bedenken.
»Entschuldigen Sie. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Manchmal schieße ich einfach über das Ziel hinaus.«
»So dramatisch ist es ja nun auch wieder nicht«, schwächte Sylvia ab.
Karen sah jetzt ihren Vater hinter Sylvia auf sie zukommen, flankiert von einem schlanken Mann um die fünfzig, dessen schwarzes Haar im Zeichen des Alters bereits gelichtet war.
Karen unterbrach ihr Gespräch mit Sylvia. »Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick.« Sie ging den beiden entgegen.
»Karen. Ich möchte dir Herrn Günther Reimann vorstellen. Er ist freier Revisor und wird dir helfen. Ich habe ihm in groben Zügen schon erklärt, was passiert ist.«
»Eine ziemlich heikle und vor allem unangenehme Sache«, meinte Reimann.
»Das ist es allerdings«, stimmte Karen bedrückt zu.
»Ich hoffe, ich kann Ihnen helfen.«
Nach ihrem Gespräch mit Reimann suchte Karen Sylvia. Sie fand sie im Gespräch mit Ellen und ihrem »Beschützer«. Die drei lachten.
»Amüsiert ihr euch?«
»Bestens«, bestätigte Ellen. »Sylvia unterhält uns gerade mit ein paar Anekdoten aus ihrer Studienzeit. Sie schwört, dass es einen gesetzmäßigen Zusammenhang zwischen dem Alter von Dozenten, deren akademischen Grad und ihren Marotten gibt.«
»Und auf welcher Stufe zwischen Genie und Wahnsinn stehen Sie selbst?« fragte Karen schnippisch.
»Genau das hat Leon auch gefragt«, sagte Sylvia lachend.
»Was haben Sie geantwortet?«
»Ich bin natürlich die berühmte Ausnahme und völlig normal. Oder möchten Sie dem etwa widersprechen?« Sylvia gab ihrer Stimme bei der Frage einen scherzhaft drohenden Unterton.
Karen hob abwehrend die Hände. »Nicht doch. Sie sind so normal wie wir alle.«
»Was auch immer das bedeutet.« Leon lächelte breit.
»Keine tiefsinnige Interpretation bitte«, warnte
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