Unter Verdacht
war – gewollt oder nicht – mit schuld daran. Die unausgesprochenen Gefühle, die sie mit sich herumtrug, waren für beide eine Belastung.
Die Distanz, die Karen ihr gegenüber heute an den Tag gelegt hatte, tat Sylvia weh. Andererseits, nach ihrer Reaktion auf Karens Kuss hatte diese ja gar keine andere Wahl. Musste Karen doch davon ausgehen, dass sie, Sylvia, wütend auf sie war. Wenn du dir also nichts einfallen lässt, wird Karen sich in Zukunft kaum anders verhalten – nicht anders verhalten können!
Sylvia fuhr mit dem Taxi heim und ging sofort ins Bett. Doch schlafen konnte sie nicht. Die halbe Nacht lag sie wach und starrte die Decke ihres Schlafzimmers an.
Früh fühlte Sylvia sich wie gerädert. Und warum das alles? Weil sie sich wie eine Idiotin benahm! Was war dabei, dass Karen sie attraktiv fand und ihr das sagte? Es war einfach ein nettes Kompliment gewesen, weiter nichts. Etwas provozierend vielleicht die Bemerkung über die Verführung, aber doch kein Grund, Karen derart zu schneiden.
Karens Kuss im Hotel hast du selbst zu verantworten. Sie war wahrscheinlich wütend und wollte dich aus der Reserve locken. Was ihr ja auch gelungen ist, wie du unschwer leugnen kannst. Und warum bist du enttäuscht, wenn Karen sich zurückhaltend verhält, nachdem du sie ja praktisch vor den Kopf gestoßen hast? An ihrer Stelle wärst du wohl auch distanziert dir gegenüber. Sie muss ja denken, du flüchtest vor ihr wie vor einer Aussätzigen, als hätte sie etwas Ansteckendes!
Sylvia kam zu einem Entschluss. Sie würde sich nicht länger wie ein unreifes Kind benehmen. Eine offene Aussprache mit Karen würde alles wieder ins Lot bringen! Sie stand nun mal nicht auf Frauen, auch wenn sie von Karen fasziniert war. Es war wohl mehr eine psychische als eine physische Anziehungskraft. Karen war eine beeindruckende Frau, nicht nur für Männer. Sie hatte einen klar arbeitenden Verstand, eine überwältigende Selbstsicherheit und einen ganz persönlichen Charme. All das wirkte nun einmal, auch auf sie. Aber das war auch schon alles. Der Kuss im Hotel hatte sie einfach überrumpelt. Natürlich waren die Gefühle mit ihr Achterbahn gefahren. Eine gewisse Erotik war der Situation nicht abzusprechen. Aber da spielte kein sexuelles Verlangen eine Rolle. Oh nein! Das würde sie Karen sagen, einen Scherz machen, und sie würden beide lachen!
Nach der letzten Vorlesung fuhr Sylvia zu Karen. In deren Büro breitete sich Chaos vor Sylvia aus. Überall lagen Papiere. Auf dem Schreibtisch, auf dem Fußboden. Karen war mittendrin.
»Was ist denn hier los?«
Karen winkte resigniert ab. »Kurzfristige Terminarbeiten. Bis Montag brauche ich einen vollständigen Plan für einen Hotelausbau.«
Sylvia sah Karen entgeistert an. »Montag? Das sind nur noch vier Tage. Da haben Sie sich ja etwas vorgenommen.«
Karen zuckte mit den Schultern. »Gute Ablenkung«, murmelte sie nur.
Sylvia legte ihre Tasche ab. Vorsichtig zwischen den Papieren balancierend, ging sie zu Karen zum Schreibtisch.
»Sieht so aus, als könnten Sie noch jemanden brauchen, der Ihnen hilft«, meinte sie wie nebenbei, während sie Karen über die Schulter sah.
Karen schaute auf. Sylvia lächelte mit schuldbewusster Miene. »Frieden?« fragte sie zaghaft.
»Ich hatte keinen Krieg.«
Sylvia atmete erleichtert auf. Gott sei Dank! Das war geschafft. Ihre zurechtgelegte Rede vergaß sie auf der Stelle. Wozu sich aufs Glatteis begeben?
Statt dessen nahm sie sich Papier und Stift und ging Karen zur Hand.
Es war zweiundzwanzig Uhr dreißig, als Sylvia ihre angespannten Nackenmuskeln spürte. Sie drehte den Kopf ein paarmal nach rechts und links und versuchte so, ihren Hals zu entkrampfen.
»Schluss für heute«, ordnete Karen an. »Ich werde morgen weitermachen.«
»Ich nehme diese Berechnungen mit nach Hause.« Sylvia raffte die betreffenden Mappen zusammen.
»Das kann ich nicht von Ihnen verlangen«, wehrte Karen halbherzig ab.
»Tun Sie ja nicht. Ich drängle mich auf«, antwortete Sylvia lakonisch. »Freitag früh kommen Sie auf dem Weg zum Büro bei mir vorbei und holen die Unterlagen ab.«
Sie waren beide zu abgespannt für weitere Konversation.
In diesem Moment klingelte das Telefon.
»Nanu, wer ruft denn jetzt noch an?« Mit diesen Worten griff Karen zum Hörer. »Hallo? . . . Bernd!? . . . Ja, natürlich können wir uns treffen. . . . Gut, ich komme.«
Karen legte auf. Einen Moment sah sie geistesabwesend vor sich hin. Dann begegnete
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