Unter Verdacht
sie Sylvias fragendem Blick.
»Das war Bernd Drechsler. Er will sich mit mir treffen.«
»Hat er gesagt, warum?«
»Nein, aber er war sehr aufgeregt. Ich muss versuchen, das auszunutzen. Vielleicht erzählt er ja endlich, was los ist.«
»Soll ich nicht lieber mitkommen?« fragte Sylvia besorgt.
»Besser nicht. Ich weiß nicht, wie Drechsler reagiert, wenn er eine fremde Person bemerkt.«
»Ich könnte mich verstecken. Ehrlich gesagt, ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, Sie allein gehen zu lassen.«
Karen lächelte. »Keine Sorge. Ich bin vorsichtig.«
»Rufen Sie mich an, sobald Sie zu Hause sind. Egal, wie spät es ist. Versprechen Sie mir das?«
»Versprochen«, willigte Karen ein.
Bereits um zwölf klingelte Sylvias Telefon. »Fehlanzeige«, hörte Sylvia Karens enttäuschte Stimme am anderen Ende. »Drechsler ist nicht gekommen.«
Sylvia konnte eine gewisse Erleichterung nicht verbergen. Immerhin war Karen durch diesen Umstand sicherer. »Sind Sie zu Hause?«
»Nein, aber ich fahre jetzt. Gute Nacht.«
»Ja. Gute Nacht.« Sylvia legte auf.
19.
E s klingelte, als Sylvia gerade unter der Dusche stand. Sie griff nach ihrem Bademantel, hüllte sich darin ein und ging zur Tür.
»Guten Morgen, Karen. Kommen Sie herein.«
Karen folgte der Aufforderung.
»Gehen Sie doch ins Wohnzimmer, ich komme gleich.«
Sylvia verschwand im Bad. Sie zog sich schnell an und trocknete mit dem Handtuch notdürftig die Haare.
»Ich bin wohl etwas zu früh«, sagte Karen, als Sylvia das Wohnzimmer betrat.
»Das macht nichts. Möchten Sie einen Kaffee? Er ist schon fertig.«
»Ja, danke.« Karen setzte sich.
Sylvia verschwand erneut. Nach zwei Minuten kam sie mit zwei Tassen voll mit dampfendem Kaffee zurück.
»Merkwürdig, dass Drechsler nicht gekommen ist«, meinte sie.
»Ja. Ich habe über eine halbe Stunde gewartet. Hat es sich wohl wieder anders überlegt.«
»Haben Sie versucht ihn anzurufen?«
»Entweder war er nicht zu Hause oder hat nicht abgenommen.«
»Verdammt.«
»Kann man eben nichts machen.« Karen zuckte die Schulter. »Lassen Sie uns das Thema wechseln. – Ich wage ja kaum zu fragen, aber wie lange haben Sie an den Berechnungen gearbeitet?«
»Ich wusste, Sie würden diese selbstquälerische Frage stellen und habe schon beschlossen, nicht darauf zu antworten.«
»So, haben Sie das? Na, das ist ja wundervoll. Sie nehmen mir nicht nur die Arbeit, sondern auch die Schuldgefühle ab.« Karen lachte.
Sylvia grinste zurück. Seit sie sich vorgestern mit Karen versöhnt hatte, fühlte sie sich sehr erleichtert, beinahe übermütig. Die Stimme in ihr, die ihr immer wieder Halbherzigkeit und Selbstbetrug vorwarf, ignorierte sie hartnäckig. Ein paar irritierende Gefühle wegen eines Kusses hatten schließlich nichts mit sexuellem Begehren oder gar Verliebtheit zu tun. Sie war erwachsen genug, um mit so etwas umzugehen.
»Dann werde ich jetzt mal die Unterlagen holen. Deshalb sind Sie ja schließlich hier.« Sylvia stand auf, holte aus einem Schrank ihre Berechnungen, gab sie Karen und setzte sich ihr gegenüber. Karen blätterte schweigend die Mappe durch. Nach dem Umfang der Arbeit musste Sylvia Stunden daran gearbeitet haben. Sylvia hatte nicht nur die angefangene Berechnung zu Ende geführt, sondern auch eine zweite, überlegenswerte Alternative angeführt. Beide Varianten waren mit Entwürfen belegt.
»Sylvia, Sie sind wahnsinnig!« Karens Stimme war voller Anerkennung und Dank. »Wenn Sie nicht so leicht zu schockieren wären, würde ich Sie jetzt küssen.«
»Oh bitte, tun Sie sich keinen Zwang an«, erwiderte Sylvia leichthin, da sie sich nun einmal vorgenommen hatte, auf derartige Neckereien nicht mehr reinzufallen.
Diesmal war es Karen, die völlig verdattert war. »Ich widerstehe der Versuchung lieber«, lehnte sie vorsichtig lächelnd ab.
»Angst vor der eigenen Courage?« Die Worte rutschten Sylvia heraus. Sofort wurde ihr klar, dass sie zu weit gegangen war. Karen war nicht die Frau, die eine solche Provokation ignorierte.
Und richtig. Karen stand auf und kam auf sie zu. Da fühlte Sylvia auch schon, wie Karen sie zu sich hochzog. Der Kuss war nur kurz und rein freundschaftlich. Karen blieb, die Hände um Sylvias Taille gelegt, vor ihr stehen und wartete, dass die sich ihr jetzt entziehen würde. Doch, zu Sylvias eigener Verwunderung, tat sie das nicht. Auch nicht, als sie fühlte, wie Karens Hand ihren Nacken entlangstrich. Ihre Gesichter näherten sich. Die anfangs sanfte
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