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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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Danach wirst du nichts mehr kriegen, gar nichts mehr, nicht einen Cent. Zwei Jahre wirst du Zeit haben, zu zeigen, wozu du fähig bist, mein Junge.«
    Matthieu fiel ihm um den Hals. Die darauffolgende Woche war apokalyptisch. Claudie machte Marcel eine grauenerregende Szene. Sie warf ihm Böswilligkeit und vorsätzliche Sabotage unter erschwerten Umständen vor, er würde seinem Enkelsohn nur helfen, weil er ihn hasste und sehen wollte, wie dieser sein Leben verpfuschte, aus reiner Lust, zu zeigen, dass er sich in ihm nicht getäuscht habe, und der andere Knallkopf sei darüber auch noch glücklich, verstünde rein gar nichts, er stürze sich voller Enthusiasmus ins Verderben, der kleine Scheißer, der er sei, und Marcel hatte noch so sehr seine Aufrichtigkeit beteuern können, nichts war zu machen, sie prangerte ihn öffentlich an, brüllte, dass er so oder so für seine Gemeinheit zahlen werde, ebenso wie Marie-Angèle, bei der sie unerwartet auftauchte, um einen Skandal loszutreten mit der Nachfrage, ob sie sich etwa darüber hinwegtrösten wolle, eine Hure in die Welt gesetzt zu haben, wenn sie sich jetzt auch noch daran machte, die Kinder Dritter zu verderben, aber nichts war zu machen, Claudie beruhigte sich schließlich und Mitte Juli übernahmen Matthieu und Libero die Bar, nachdem sie Gratas großherzig als Tellerwäscher engagiert hatten. Libero schob sich hinter den Tresen. Er betrachtete die farbige Aufreihung der Flaschen, die Spülbecken, die Registrierkasse und fühlte sich am rechten Platz. Diese Währung besaß Gültigkeit. Ein jeder verstand ihren Sinn und glaubte an sie. Darin bestand ihr Wert und kein anderer trügerischer Wert konnte dem entgegengestellt werden, nicht auf Erden und nicht im Himmel. Libero hatte keine Lust mehr, zu widerstehen. Und während Matthieu seinen uralten Traum realisierte, während er mit wilder Freude die Lande seiner den Flammen übergebenen Vergangenheit verwüstete und damit auch die Nachrichten wegfegte, die Judith ihm zur Unterstützung und voller Bedauern eigensinnig schickte, werde glücklich, wann werde ich Dich wiedersehen?, vergiss mich nicht, als könnte er sie nun aus seinen Träumen verjagen, da hatte Libero bereits seit Langem zu träumen aufgehört. Er anerkannte seine Niederlage und gab der Dummheit der Welt seine Zustimmung, eine schmerzhafte, umfassende, hoffnungslose Zustimmung.

»Du, siehe, was Du bist.
    Denn unabwendbar kommt das Feuer.«

Aber die Berge verhüllen die weite, offene See und erheben sich in ihrer trägen Masse gegen Marcel und seine unaufhörlichen Träume. Vom Hof der Schule in Sartène aus kann er nur die Spitze des Golfs ausmachen, der in die Felder hineinragt, und das Meer ähnelt einem riesigen See, friedlich und unbedeutsam. Er muss das Meer nicht sehen, um zu träumen, Marcels Träume nähren sich weder von Betrachtung noch von Wortbildern, sondern vom Kampf, ein unermüdlich geführter Kampf gegen die Trägheit der Dinge, die sich einander ähneln, als wären sie unterhalb der Vielgestaltigkeit ihrer Erscheinungen aus der immer gleich schweren, zähflüssigen, formbaren Substanz gebildet, selbst das Wasser der Flüsse ist trübe und an den menschenleeren Ufern dünstet das Geplätscher der Wellen ekeligen Geruch nach Moor aus, da muss einer kämpfen, will er nicht selbst träge werden und sich langsam wie von Treibsand verschlucken lassen, und Marcel führt zudem noch einen unaufhörlichen Kampf gegen die entfesselten Kräfte seines eigenen Körpers, gegen den Dämon, der sich darin verbeißt, ihn ans Bett zu fesseln, den Mund voller Fäulnis, die Zunge zerfressen vom Rückfluss saurer Substanzen, als hätte eine Winde sich in seinen Brustkorb gebohrt und in seinen Leib eine Grube rohen Fleisches, er kämpft gegen die Hoffnungslosigkeit, unentwegt in die Kissen eines von Blut und Schweiß feuchten Bettes geworfen zu sein, gegen die verlorene Zeit, er kämpft gegen den müden Blick seiner Mutter, gegen das resignierte Schweigen seines Vaters, während er darauf wartet, gemeinsam mit seinen Kräften das Recht wiedererlangt zu haben, dort zu sein, im Hof der Schule von Sartène, mit seinem durch die Wand der Berge verstellten Blick. Er ist der erste und einzige seiner Geschwister, der seine Bildung jenseits des Abschlusszeugnisses weiterverfolgt, und weder die Dämonen seines Körpers noch die Trägheit der Dinge werden ihn daran hindern, dass er sie über die Hochschule hinaus verfolgen wird, er möchte nicht Lehrer sein, er

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