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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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möchte nicht unnütze Lektionen irgendwelchen armen und schmutzigen Kindern erteilen, deren furchtsamer Blick ihn zurück in die Verzweiflung seiner eigenen Kindheit schicken würde, er möchte sein Dorf nicht verlassen, um sich in einem anderen doch nur ähnlichen Dorf zu beerdigen, wie ein Baumstumpf im Boden einer Insel verankert, auf der nichts sich ändert, da sich in Wahrheit nie etwas ändert und auch niemals ändern wird. Von Indochina aus schickt Jean-Baptiste Geld und hat seinen Eltern ein ausreichend großes Haus gekauft, damit im Sommer sämtliche Mitglieder der Familie sich dort einfinden können, ohne zwangsweise eng aneinandergeschmiegt wie Tiere in einem Stall schlafen zu müssen, Marcel hat sein eigenes Zimmer, aber die tote Haut an den spröden Lippen seines Vaters ist geblieben und die Stirn seiner Mutter ist noch immer durchfurcht von der tiefen und gradlinigen Trauerfalte, sie wirken weder jünger noch älter als fünfzehn Jahre zuvor, kurz nach dem Ende der Welt, und wenn er seine eigene Silhouette im Spiegel betrachtet, dann hat Marcel das Gefühl, dass er so geboren ist, schwankend und mager, und dass die Kindheit ihn mit einem grausamen Siegel versehen hat, von dem ihn nichts befreien konnte. Auf den Photos, die ihnen Jean-Baptiste zukommen ließ, änderte sich sein Aussehen, da er in einem Teil der Erde lebte, wo die Zeit noch fühlbare Spuren ihres Vergehens hinterließ, er nahm sichtbar zu, magerte dann ebenso brutal ab, als wäre sein Körper unentwegt vom anarchischen und mächtigen Strom des Lebens selbst erschüttert, er posierte beim Stillgestanden in einer untadeligen Aufreihung von Uniformen und Pferden oder aber halbwegs lässig, die Schirmmütze auf dem Hinterkopf, vor unbekannten Pflanzen, gemeinsam mit anderen Militärs und in Seide gekleideten Mädchen, sein Gesicht entweder deformiert von Fett und Selbstgefälligkeit oder hohl vor lauter Müdigkeit, Ausschweifung, Fieber, stets jedoch war auf ihm ein immer gleicher spöttischer und vergnügter Ausdruck zu lesen, er gab sich den Anschein eines Zuhälters, und Marcel bewunderte ihn nicht mehr, er beneidete ihn darum, sich so ostentativ an einem Schatz erfreuen zu können, den er nicht verdient hatte. Alles, was er von seinem Bruder wahrnahm, war ihm unerträglich geworden, sein offensichtlicher Geschmack an Huren, sein imposantes Auftreten, seine Magerkeit und sein Fett, die Unverfrorenheit seiner Haltung, sogar seine Großzügigkeit, denn all das Geld konnte nicht vom Sold eines Hauptfeldwebels weggespart werden und stammte ohne jeden Zweifel aus ekelerregendem Schmuggel mit Piaster, Opium oder Menschenfleisch. Als Jean-Baptiste zur Hochzeit von Jeanne-Marie ins Dorf zurückkam, entsprach sein Leibesumfang exakt demjenigen am Tage seiner Abreise und ein juveniler Ausdruck prägte noch das Gesicht des Mannes, zu dem er dort drüben geworden war, in diesen unvorstellbaren Gegenden, wo die Gischt des Meeres durchschimmernd war und im Sonnenglanz leuchtete wie ein Gebinde aus Diamanten, er war umschwärmt von seiner Frau und seinen Kindern, der goldene Anker der Kolonialtruppen schmückte seine Ärmel und seine Schirmmütze, aber die giftige Einwirkung seiner Heimaterde schickte ihn erneut zu dem zurück, was er nie aufgehört hatte zu sein, ein unkultivierter und ungelenker Bauer, den das Schicksal in eine Welt verfrachtet hatte, die er nicht verdiente, und weder die Champagnerkisten, die er für die Hochzeit seiner jüngeren Schwester bestellt hatte, noch sein groteskes Vorhaben, in Saigon ein Hotel zu eröffnen, wenn er als Militär in Ruhestand treten würde, änderten daran etwas. Sie waren alle elende Bauern, die einer Welt entstammten, die schon seit Langem aufgehört hatte, eine zu sein, und die an ihren Sohlen klebte wie Schlamm, die zähflüssige und formbare Substanz, aus der auch sie gemacht waren und die sie überallhin mit sich nahmen, ob Marseille oder Saigon, und Marcel weiß, dass er der Einzige ist, der dem tatsächlich entkommen können wird. Die Krapfen waren zu trocken und von einer Schicht harten Zuckers überzogen, die fade Lauheit des Champagners hinterließ im Gaumen den Geschmack von Asche und die Menschen schwitzten unter der Sommersonne, aber Jeanne-Marie strahlte mit scheuer Freude, und der Schleier aus Seide und die weißen Spitzen, die das Oval ihres Gesichts unterstrichen, verliehen ihr die Anmut einer antiken Jungfrau aus Judäa. Sie tanzte, mit allen Kräften an den Schultern ihres Mannes

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