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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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jeunesse
, er hört, dass er nichts anderes sein wird als ein Pfadfinder, der den Sieg des Marschalls zu besingen habe, und eine saure Verätzung zerreißt ihm Bauch und Brust und wirft ihn mitten unter seinen Kameraden auf die Knie, vor dem Kommandeur, der ihn Blut in den Staub spucken sieht. Mit dem Ende seines Krankenhausaufenthalts, nachdem er als dienstunfähig entlassen worden ist, geht er los, um sich in Marseille bei einer seiner älteren Schwestern niederzulassen, und verbringt ganze Tage ausgestreckt auf seinem Bett, eingelullt vom Gefühl der Übelkeit, ohne sich entscheiden zu können, zurück ins Dorf zu kehren, um dort doch wieder nur der stets anwesenden Umklammerung der Angst und Trauer zu begegnen, und er schiebt seine Abreise auf, klammert sich verzweifelt an diese riesige und schmutzige Stadt, als müsste sie ihm Heil bringen. Er ist sich sicher, dass die Existenz ihm gegenüber enorme Schulden hat, die sie nur begleichen konnte, wenn er hierbliebe, denn er weiß, sobald er seinen Fuß auf den Boden seiner Herkunft setzte, wären alle Konten gelöscht, die Beleidigungen wie die Benachteiligungen wie auch die Wiedergutmachungen, und das Leben würde ihm nichts mehr schuldig sein. Er wartet darauf, dass irgendetwas geschieht, und er durchschreitet die Straßen dieser Stadt, deren Ausmaß und Schmutz ihm Angst machen, er wirft unruhige Blicke in Richtung Hafen und versucht, den giftigen Verführungen der Nostalgie zu widerstehen, und verstopft sich die Ohren, denn er befürchtet, von der anderen Seite des Meeres her die Sanftheit geliebter Stimmen zu hören, die ihn einladen zurückzukehren, hinein in die Vorhölle, aus der er gekommen. Sébastien Colonna war ihm gefolgt und täglich kamen Dutzende seiner Landsmänner nach Marseille, um dort Arbeit zu finden. Auf Empfehlungen eines Onkels von Sébastien stellte man ihn bei der Société générale an. Aber die Wochen reihten sich aneinander und die Schulden blieben unbeglichen. Geschah es so, dass sich das Leben seiner Schuld entledigte?, geschah es so, dass es ihn darüber hinwegtröstete, kein Offizier geworden zu sein, indem es ihn zwang, sich in Geschäftsbücher zu vertiefen, die ihm vor Langeweile die Luft nahmen, und es ihm nur zugestanden war, dem allem zu entfliehen, wenn er Sébastien zuhörte, wie der ihn mit unaufhörlichen Reden über die Verdienste der nationalen Revolution bedachte, wie er Gottes Weisheit pries, die den Menschen half, eine aufschlussreiche und heilsame Lehre zu ziehen aus schlimmsten Katastrophen, wie er die Fähigkeit rühmte, sich zu opfern und dem Los der Dinge sich zu fügen, da Frankreich eine brutale Behandlung benötigte, um sich vom Gift zu reinigen, das es wundbrandig habe werden lassen – geschah es so? Verfolgte ihn das Leben nicht ganz im Gegenteil mit seiner wiederholten Verachtung bis in die Arme der Hure, der zu nähern er sich entschieden hatte, um zugleich seinen Wunsch nach Erfahrung und Trost zu befriedigen? Sie hatte schwarze, mitfühlende Augen, die einen Glanz ausstrahlten von falscher Sanftheit, der sogleich verschwand, als sie mit ihm allein war, und kein Schimmer mehr erhellte ihren Blick, den sie auf ihn gerichtet hielt, während er seine Intimpflege auf einem gräulich rissigen Bidet vollzog, sie blickte ihn mitleidslos an und er zitterte vor Scham, die Bitterkeit dessen vorahnend, was er gleich würde erfahren sollen, ohne noch auf Trost zu hoffen. Er folgte ihr ins Bett, wo es nach Schimmel roch und wo er ertragen musste, dass sie ihn bis zum bitteren Ende die Kränkung ihrer Teilnahmslosigkeit spüren ließ. Er fühlte die Wärme dort, wo ihre Leiber sich vereinten und ineinander vermengten wie die Kloaken von Reptilien, er fühlte ihre feuchten Brüste gepresst gegen seine Brust, ihre feuchten Beine gepresst gegen die seinen, unerträgliche Bilder wurden wach in Marcels Geist, er war ein Vieh, ein großer, gefräßiger und zitternder Vogel, der bis zum Hals in den Gedärmen von Aas wühlte, denn sie bewahrte die obszöne Teilnahmslosigkeit von Aas, ihre blanken Augen stets Richtung Decke gerichtet, und dort, wo ihre Häute einander berührten, dort, mit jedem einzelnen Kontakt, vermengten sich die Flüssigkeiten, die durchsichtige Lymphe und die Intimsäfte, als müsste sein Körper für immer in fratzenhafter Verwandlung die Spur dieses Körpers einer Frau bewahren, die er nie mehr wiedersehen würde und deren Namen er nicht kannte, und er stand abrupt auf, um sich anzuziehen und zu

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