Untergang
gehen. Er landete keuchend auf der Straße, die Kehle zugeschnürt, fremdes Blut floss in seinen Adern, sein Schweiß, der auf seine Augenlider rann, hatte nicht mehr den gleichen Geruch und er spuckte aus auf die Erde, da er den Geschmack seines Speichels nicht mehr erkannte. Über Wochen untersuchte er angsterfüllt peinlich genau seinen Körper, jeden kleinen Pickel, jede einzelne Rötung, er fühlte sich zu Ekzemen, Pilzen, Syphilis, Gonorrhö verdammt, aber welchen Namen auch immer die Krankheit, die ihm auflauerte, tragen sollte, sie wäre nichts als die oberflächliche Form, mit der das Böse, dem er sich unterworfen hatte, seine unheilbare Gegenwart ausdrückte, und Woche um Woche belagerte er die Ärzte, bis die deutsche Armee in die freie Zone vordrang und ihn zwang, sich von sich selbst loszureißen. Sébastien Colonna war entsetzt, er prangerte die Inkonsequenz der Alliierten an, Hitlers Falschheit, der sein eigenes Wort nicht achtete, sein Vertrauen in die väterliche Autorität des Marschalls aber war sichtbar angeschlagen, er hatte Angst, zum Arbeitsdienst in eine deutsche Fabrik geschickt zu werden, und er sagte zu Marcel, wir müssen von hier weg, wir müssen sofort los. Aber die Schiffe verließen den Hafen nicht mehr. Sébastien erfuhr von seinem Onkel, dass wenige Tage später ein Passagierdampfer in Toulon die Anker lichten sollte Richtung Bastia. Marcel und er nahmen den Bus. Sie sahen oberhalb des Meeres Säulen schwarzen Rauchs aufsteigen, nichts war geblieben von der versenkten französischen Flotte als eine ungeheuere Menge Blech und Stahl, die die Reede verstopfte, deutsche Jagdbomber gingen im Sturzflug nieder auf die wenigen Schiffe, die noch versuchten zu entkommen und zwischen den Minen und Metallnetzen sich durchzuschlängeln, und Sébastien begann zu weinen. Als die Dringlichkeit seiner eigenen Situation ihm endlich doch zumindest ebenso eines Interesses würdig erschienen war wie die Ehre der Kriegsmarine, da erklärte er Marcel, dass sie unbedingt die italienische Zone erreichen müssten, wollten sie sich eine Chance bewahren, nach Hause zu gelangen. Marcel antwortete, dass er kein Geld mehr habe, um die Reise weiterzuführen, und dass er zurück nach Marseille gehen würde zu seiner Schwester, aber Sébastien lehnte ab, es käme nicht infrage, er habe Geld und er würde ihn nicht im Stich lassen, und so verstand Marcel, dass Freundschaft ein Mysterium ist. Es gelang ihnen, bis nach Nizza durchzukommen, um dann eine Woche später wieder ihr Dorf zu erreichen. Jeanne-Maries Trauer hat das Haus überschwemmt und schwebt darin wie ein Nebel, den nichts auflösen wird. Alles verblasst unter einem Schleier des Schweigens, so bedrückend, dass Marcel nachts manchmal aus dem Schlaf aufschreckt und dem Zischen der Granaten über der Reede von Toulon nachtrauert. Er steht auf, um etwas zu trinken, und findet seinen Vater stehend in der Küche, vollkommen unbeweglich, die Augen starr, und Marcel fragt ihn, Papa, was machen Sie da?, ohne eine andere Antwort zu erhalten als ein Kopfschütteln, das ihn zurückschickt in die Ewigkeit des Schweigens, und er sieht seinen Vater entsetzt an, wie er aufrecht dasteht in seinem Hemd aus grobem Leinen, mit seinen verbrannten Wimpern an den Lidern, seinen weißen Lippen, und er kann trotz der Panik, die ihn übermannt, seinen Blick nicht abwenden, er reißt seine Kräfte zusammen, geht nah an ihm vorbei, nimmt den Krug, um sich Wasser einzuschenken, und geht wieder schlafen mit dem Schwur, in den kommenden Nächten nicht aufzustehen, selbst wenn Durst ihn quälen sollte, denn er weiß, dass er seinen Vater an gleicher Stelle würde stehen sehen, außerhalb der Welt, erstarrt in einer schmerzhaften Bestürzung, der auch der Tod selbst kein Ende setzen können wird. Marcel würde der bleiernen Schicht aus Schweigen gern entkommen, er lauscht dem starken Wind der Revolte ringsum und wartet darauf, dass die verlustreichen Windstöße die Türen und Fenster des Hauses aufreißen würden, um reine Luft eindringen zu lassen. Sébastien Colonna berichtet ihm von irgendwelchen Fallschirmabwürfen, von Attentaten unter Einsatz von Granaten, er erzählt, dass in der Alta Rocca zwei Andreani-Cousins einen Italiener massakriert hätten, bevor sie sich dann einer Widerstandsgruppe angeschlossen hatten, und er verdammt diese absurden und kriminellen Handlungen, ohne sich darüber bewusst zu werden, dass Marcel seine Missbilligung gar nicht teilt und sich bereits
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