Untergang
Auftakt einer endgültigen Form von Gleichgültigkeit, der Junge, den sie so sehr geliebt hatte und so häufig getröstet, er hatte sich schleichend in ein Wesen ohne Tiefe und Interessen entwickelt, dessen Welt vom Horizont seiner nichtigen Wünsche begrenzt war, und Aurélie wusste, sobald sie das wahre Ausmaß davon erkannt haben sollte, würde er ihr vollkommen fremd werden. Sie war gekommen, um die Ihren, vor allem ihren Großvater, in die Arme zu schließen und ihre Anwesenheit zu genießen, bevor sie gehen sollte, und sie wohnte nach dem Essen allabendlich Matthieus Nummer bei, denn es war anscheinend verbindlich geworden, einen Aufenthalt in der Bar einzulegen auf ein Glas in familiärer Runde, Matthieu kam und setzte sich an ihren Tisch, sprach von seinen Plänen für den kommenden Winter, von den Tricks, die Libero und er sich erdacht hatten, um sich mit Fleischwaren einzudecken, von der Unterbringung der Kellnerinnen, und der Mann, der gegenwärtig für einige Monate noch mit Aurélie das Leben teilte, schien das alles hinreißend zu finden, er stellte relevante Fragen, gab seine Meinung kund, als müsste er um jeden Preis Matthieus Zuneigung gewinnen, es sei denn, er war, wie Aurélie es ernsthaft begann zu unterstellen, im Grunde genommen ein Schwachsinniger, der sich daran ergötzte, einen anderen Schwachsinnigen gefunden zu haben, mit dem zusammen er nach Belieben jegliche Art von Schwachsinn äußern konnte. Aber sie warf sich umgehend die Grausamkeit ihres Blicks vor, die Einfachheit, mit der die Liebe sich plötzlich verkehren konnte in Verachtung, und sie fühlte sich traurig, ein boshaftes Herz zu besitzen. Sie hatte nichts einzuwenden gegen die Wirte, die Sandwichs und die Kellnerinnen, und sie hätte auch kein Urteil gefällt über Matthieus Entscheidungen, wären sie ihr nur ernsthaft und überlegt erschienen, aber sie konnte weder die Komödie ertragen noch die Verleugnung, und Matthieu benahm sich, als müsste er sich seine Vergangenheit amputieren, er sprach mit einem erzwungenen Akzent, der ihm nie eigen gewesen war, ein Akzent, der nur umso lächerlicher wirkte, als er ihn mitten im Satz verlieren konnte, dann rot wurde und sich anders besann und den Ablauf seiner grotesken Identitätsdramaturgie wieder aufnahm, aus welcher jeder noch so geringe Gedanke, die kleinste Bekundung an Geist ausgeschlossen waren wie gefährliche Elemente. Und selbst Libero, den Aurélie stets als einen feinen und intelligenten Jungen betrachtet hatte, schien entschieden zu sein, denselben Weg einzuschlagen, und er beschied sich darin, mit einer im Tonfall einer Frage eingefärbten Lautmalerei zu antworten, als sie ihm mitteilte, dass sie das vor ihr liegende Jahr zwischen der Universität von Algier und Annaba verbringen werde, wo sie an den Ausgrabungen des Geländes von Hippo Regius beteiligt sei, zusammen mit einer Mannschaft französischer und algerischer Archäologen, als würde Augustinus, dessen Werk er vor Kurzem noch ein ganzes Jahr seines Lebens gewidmet hatte, keine weitere Sekunde Aufmerksamkeit verdienen. Aurélie hatte es aufgegeben, ihnen von Dingen zu erzählen, die ihr von Bedeutung waren, und allabendlich, wenn sie die Grenze dessen erreicht hatte, was zu ertragen ihr möglich war an Liedern, Lachern und Albernheiten, erhob sie sich vom Tisch und fragte ihren Großvater: »Meinst du nicht, wir sollten ein wenig spazieren gehen?«, und präzisierte: »Nur wir beide?«, damit bloß niemand auf die Idee käme, sich ihnen anzuschließen, und gemeinsam gingen sie dann ein Stück des Weges, der in die Berge führte, Marcel nahm den Arm seiner Enkeltochter, sie ließen den Lärm des Festes und die Lichter hinter sich und setzten sich nahe am Brunnen für einen Augenblick unter den weiten, sternübersäten Himmel dieser Nacht im August. Es war das erste Mal, dass sie ausgewählt worden war für ein Projekt der internationalen Zusammenarbeit und sie wollte sich unbedingt an die Arbeit machen. Ihre Eltern sorgten sich um ihre Sicherheit. Der Mann, der gegenwärtig noch das Leben mit ihr teilte, sorgte sich um die Fortdauer ihrer Beziehung. Matthieu sorgte sich um nichts. Ihr Großvater blickte sie an wie eine Zauberin, die eigenhändig fähig war, die verlorenen Welten aus jenen Schlünden des Staubes und Vergessens zu ziehen, welche sie in die Tiefe gerissen hatten, und voller Enthusiasmus hatte sie sich in Momenten wie jenen, da sie ihr Studium begonnen hatte, selbst als eine solche erträumt. Sie war
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