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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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demütiger geworden und ernster. Sie wusste, dass da kein einziges Leben war fernab vom Auge des Menschen, und sie bemühte sich, einer dieser Blicke zu sein, der das Leben nicht erlöschen lässt. Aber ihr boshaftes Herz flüsterte ihr manches Mal zu, dass dies nicht wahr sei, sie bringe nur tote Dinge ans Licht zurück und hauche ihnen keinerlei Leben ein, im Gegenteil, es sei ihr eigenes Leben, das sich, von einem Ende zum anderen hin, mehr und mehr vom Tod durchströmen lasse, und Aurélie drückte sich inmitten der Nacht an ihren Großvater. Als die Stunde zur Abreise gekommen war, umarmte sie ihn inniglich, dann umarmte sie jeden der Ihren und versuchte dabei, ihre Zuneigung nicht aufzuteilen. Matthieu fragte sie: »Ist aber doch klasse, was wir da geschaffen haben, oder nicht?«, und erbat ihre Zustimmung mit so kindlichem Nachdruck, dass sie gar nicht anders konnte, als ihm zu antworten: »Ja, sehr, ich freu mich für dich«, und ihm einen weiteren Kuss zu schenken. Sie ging mit dem Mann, mit dem sie gegenwärtig noch ihr Leben teilte, zurück nach Paris, und wenige Tage darauf begleitete dieser sie nach Orly, wo es noch, nach einer Liebesnacht, die er intensiv hatte haben wollen und feierlich, bei Tagesanbruch Umarmungen gab und Küsse, die Aurélie so gut sie vermochte gab und empfing. Das Flugzeug der Air France war beinahe leer. Aurélie versuchte zu lesen, schaffte es aber nicht. Schlafen konnte sie auch nicht. Der Himmel war klar. Als der Flieger die Balearen überflog, presste Aurélie ihr Gesicht gegen das Seitenfenster und betrachtete das Meer, bis die afrikanische Küste in Sicht kam. In Algier erwarteten mit Pumpguns bewaffnete Männer der Sécurité Nationale das Flugzeug auf dem Rollfeld an seiner endgültigen Parkposition. Sie stieg die Gangway hinab und konzentrierte sich darauf, sie nicht anzusehen, und kletterte in einen knarrenden Bus, der sie bis zur Flughafenhalle brachte. Am Schalter der Grenzpolizisten herrschte ein unbeschreibliches Menschengewühl. Drei oder vier Flüge mussten zur gleichen Zeit gelandet sein, darunter eine 747, die aus Montreal mit neun Stunden Verspätung angekommen war, und die Polizisten nahmen jeden der Pässe, die man ihnen hinstreckte, mit äußerster Sorgfalt unter die Lupe und versenkten sich in eine zeitverschlingende und melancholische Betrachtung der Visa, bevor sie sich dann anschickten, lässig den befreienden Stempel zu gewähren. Nach einer Stunde, als sie bei den Gepäckausgabebändern ankam, fand sie sämtliche Koffer wahllos im Raum verstreut auf einem mit Zigarettenstummeln übersäten Boden vor und befürchtete, den ihren nicht wiederzufinden. Sie musste ein weiteres Mal ihren gestempelten Pass vorzeigen, leidenschaftslosen Zöllnern ein Lächeln schenken und elektronische Schleusen passieren, bevor sie in die Ankunftshalle kam. Eine Menschenmenge drängte sich bis zur Absperrung und erspähte die Tür. Aurélie schlug das Herz vor Angst, sie hatte sich noch nie so verloren und allein gefühlt, sie hatte Lust, auf der Stelle kehrtzumachen, und als sie ihren Namen auf einem Stück Papier geschrieben fand, das von unbekannter Hand hochgehalten wurde, da empfand sie darüber eine so starke Erleichterung, dass zu weinen sie sich kaum hatte zurückhalten können.

Libero hegte nicht die geringste Absicht, die gleichen Fehler zu begehen wie seine unglücklichen Vorgänger. Er wusste, dass er ebenso wenig Ahnung vom Barbetrieb hatte wie Matthieu, zweifelte aber nicht daran, dass seine Kenntnis der Gegend und ein Minimum an Gespür sie bewahren würden vor einem weiteren Debakel. Er sprach visionär von der Zukunft und Matthieu hörte ihm zu, als sei er das Gütesiegel der Propheten selbst, es sei klar, dass sie ihre Ambitionen leicht zurückschrauben müssten, ohne sie aber völlig aufzugeben, es sei ausgeschlossen, dass sie eine umfassende Küche anböten, das wäre die Hölle und ein Fass ohne Boden, aber sie müssten ihren Gästen schon, vor allem im Sommer, etwas Einfaches zu essen anbieten, Wurst, Schinken, Käse, vielleicht Salate, ohne an der Qualität zu sparen, Libero war sich da sicher, die Leute seien bereit, den Preis für Qualität zu bezahlen, da man sich im Augenblick aber damit abfinden müsse, vom Massentourismus zu leben und Unmengen abgebrannter Leute zu bedienen, stand es außer Frage, sich auf Luxusprodukte zu beschränken, und sie würden ohne mit der Wimper zu zucken auch echten Scheiß spottbillig verkaufen, und Libero wusste

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