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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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wie ein Bruder, und Schwestern, deren inzestuöser Kuss Düfte lieblicher Erlösung verströmte, da war eine unendliche Ruhe und Schönheit, die nichts stören konnte, sodass er, als Jacques ihn in seine Arme schloss und gerührt mit den Worten küsste: »Bitte, mach dir keine Sorgen, alles wird gut werden«, gar nicht anders konnte, als ihm offenherzig zu antworten, dass er sich gar keine Sorgen mache, da er ja wisse, dass alles gut gehen würde, und sein Vater sagte zu ihm: »Ja«, stolz, mag sein, auf diesen Sohn, der die unglaubliche Feinheit besaß, ihm die schmerzhafte Feierlichkeit seines Kummers zu ersparen, und dann küsste er Aurélie und ging schlafen. Matthieu blieb da, mitten im Wohnzimmer, wie dunkel beunruhigt von etwas Unsicherem, er goss sich einen weiteren Whisky ein, an Aurélies Seite, die ihre Tränen zurückhielt, aber plötzlich erinnerte er sich, dass er ja nun gehen konnte und stellte sein Glas ab. Aurélie sah ihn an.
    »Ist es dir klar?«
    »Ist mir was klar?«
    »Es kann sein, dass Papa stirbt.«
    »Das habe ich so nicht verstanden. Ganz und gar nicht.«
    Gegen Mitternacht kam er in der Bar an. Zwei Typen aus Sartène tranken eine Flasche Wodka am Tresen, sie konnten sich kaum mehr aufrecht halten, baggerten aber Annie heftig an, die sie als Schweine beschimpfte und von Zeit zu Zeit mit einer kleinen, vorwurfsvollen Zärtlichkeit an den Eiern bestrafte und sich später zierte beim Kassieren von übermäßigem Trinkgeld. Gratas kehrte in einer Ecke. Ganz allein an einem Tisch legte Virginie Susini Patiencen. Matthieu setzte sich zu ihr. Sie unterbrach sich nicht eine Sekunde lang und würdigte ihn nicht eines Blickes. Einen Moment zuvor noch hatte Matthieu nicht das Bedürfnis verspürt, wem auch immer sein Herz auszuschütten, aber sie war da und sie war vielleicht die einzige Person auf dieser Welt, der gegenüber man es nicht zu bereuen brauchte, wenn man sie ins Vertrauen zog, denn es war wahrscheinlich, dass sie nicht einmal zuhörte. Er beugte sich zu ihr vor und sagte jählings: »’s scheint, mein Vater könnte sterben.« Virginie hob den Kopf und legte die Karodame und den Kreuzkönig, bevor sie murmelte: »Ich kenne den Tod gut, ich bin als Witwe geboren.« Matthieu durchfuhr eine Gereiztheit. Die Durchgeknallten ermüdeten ihn. Er wollte Izaskun sehen. Er sah Virginie mit leicht blasiertem Flunsch an.
    »Du wartest hoffentlich nicht auf mich, was?«
    Virginie zog eine weitere Karte.
    »Auf dich? Nein. Er ist es, auf den ich warte, aber er weiß es noch nicht«, und sie zeigte mit dem Finger auf Bernard Gratas, der daraufhin wie versteinert stehen blieb, den Besen in der Hand.

Und jetzt spähte sie am Seitenfenster nach dem Auftauchen der Balearen, die ihr das Versprechen eines nahenden Trostes gaben, demjenigen der Rückkehr in die Sanftmut eines Geburtslandes, das sie gar nicht hatte zur Welt kommen sehen, und ihr Herz begann heftiger zu schlagen, bis sie schließlich die kieselgraue Linie der afrikanischen Küste erblickte und wusste, dass sie endlich heimkehrte. Denn inzwischen war es in Frankreich, wo sie sich im Exil fühlte, als hätte ihr die Tatsache, dass sie nicht mehr tagtäglich die gleiche Luft atmete wir ihre Landsleute, deren Sorgen unverständlich werden lassen, und ebenso waren die Worte, die man an sie richtete, vergeblich gesprochen, eine rätselhafte Grenze war um ihren Körper herum gezogen, eine aus transparentem Glas gemachte Grenze, die zu überschreiten sie weder die Kraft besaß noch den Wunsch. Es verlangte ihr ungeheure Anstrengungen ab, der banalsten Unterhaltung zu folgen, und all ihren Anstrengungen zum Trotz gelang es ihr nicht, sie musste ihre Gesprächspartner immer wieder bitten zu wiederholen, was grade gesagt worden war, es sei denn, sie hatte bereits aufgegeben, ihnen zu folgen, um sich in die Stille hinter ihrer unsichtbaren Grenze zurückzuziehen, und der Mann, der bald schon nicht mehr das Leben mit ihr teilen würde, war davon ständig verletzt, er machte ihr Vorwürfe, die sie nicht einmal mehr abwehrte, denn sie hatte es aufgegeben, gegen ihre eigene Kälte anzukämpfen, gegen ihre Ungeniertheit und Ungerechtigkeit, die sich in ihrem boshaften Herzen niedergelassen hatten. Erst am Flughafen von Algier, in den Räumlichkeiten der Universität und schließlich in Annaba war es ihr möglich, wieder ganz zu ihrer Güte zu finden. Sie ertrug leichten Herzens die nicht enden wollenden Warteschlangen an den Schaltern der Grenzpolizei, die

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