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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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wenn er jetzt so plötzlich aufkreuzte, seinen Vater umsonst beunruhigen könnte, er würde dann vielleicht denken, es sei ein endgültiger Abschiedsbesuch, auf seinen Gemütszustand aber müsse man jetzt achten, und Aurélie war unfähig, sich noch länger unter Kontrolle zu halten, sie sagte zu ihm, dass er nichts als ein kleines, widerlich egoistisches Arschloch sei, ein kleines, blindes Arschloch, das im Grunde seiner selbst darauf hoffe, seine Blindheit sorge am Ende für seine Absolution, aber niemals werde er für das, was er grade dabei sei zu tun, eine Absolution erhalten, und wenn, dann nicht durch sie, sie sei nicht ihre Mutter, die noch immer einen Cherub in ihm sehe, den es, koste es, was es wolle, zu bewahren gelte vor einer schmerzhaften Konfrontation mit den Grauen der Existenz, als wäre er derjenige, den es im Grunde am meisten zu beklagen gälte, als würde seine überempfindliche Sensibilität, diese besondere Sensibilität, die ja anscheinend sein exklusives Privileg sei, ihn davon befreien, seine fundamentalsten, wichtigsten Aufgaben zu erfüllen, es käme ihr gar nicht erst in den Sinn, von Liebe zu reden und Mitgefühl, das seien Worte, die er unfähig wäre zu verstehen, aber kapiere er eigentlich, was seine Aufgaben wären, kapiere er, dass er, sollte er sich eigensinnig darauf versteifen, ihnen entgehen zu wollen, für immer das kleine Stück Scheiße bliebe, in das er sich in Rekordzeit verwandelt habe, mit einem Talent, das einem Bewunderung abverlange, dies gebe sie gerne zu, und dass ihm dann niemand mehr würde helfen können, denn dann wäre es zu spät, und Klagelieder wären ihm dann verwehrt, ebenso wie der Trost der Reue, darüber werde sie wachen, es sei denn, sein Gewissen sei inzwischen so verdorben, dass er die beglückende Versuchung der Reue gar nicht mehr verspüre, sollte jedoch noch etwas von dem Bruder in ihm stecken, den sie einst geliebt habe, dann würde er sich zwingen, seine Nabelschau zu beenden und die Augen zu öffnen, und sie wolle jetzt nichts hören über Unbewusstes, Blindheit, Sensibilität, egal wie besonders oder überempfindlich diese auch sein möge, es gebe Dinge, die seien furchtbar und denen müsse man sich stellen, denn das sei es, was Menschen tun, in dieser Konfrontation verspürten sie ihre Menschlichkeit und erwiesen sich ihrer als würdig, und dann würde er auch verstehen, dass es ihm unmöglich, vollkommen unmöglich, von einer radikalen und definitiven Unmöglichkeit war, seinen Vater sterben zu lassen, ohne ihm das Almosen eines einzigen Besuchs zu gewähren, selbst wenn dieser Besuch unvorstellbar weniger angenehm sei als das, was sein Alltagsleben als Arschloch ausmache, die Zechtour und die Rumfickerei und die haarsträubende Dummheit, in welcher er sich suhle wie ein Schwein in seinem Mist, und falls ihm dies nun endlich klar geworden wäre, dann würde er noch in der nächsten Minute einen Flieger nehmen, und sie hatte derart Angst, ihn aus ihrem Leben verbannen zu müssen, sollte sie die Antwort hören, die er ihr jetzt geben würde, sie hatte derart Angst, ihn für immer verlieren zu müssen, Idiotin, unverbesserliche Idiotin, die sie war, dass sie es vorzog, seine Antwort nicht abzuwarten, und sie knallte den Hörer auf. Sie ging zurück zu Claudie. Sie zitterte noch vor Wut. »Ich hatte deinen Sohn am Telefon. Du hättest ihn besser …«
    Claudie sah sie an, völlig verloren und schutzlos, und Aurélie gratulierte sich, den Satz nicht zu Ende gesprochen zu haben, den ihr die brutalen Anordnungen ihres boshaften Herzens diktierten, denen sie aufgehört hatte zu widerstehen, sobald sie sich allein wiederfand an der Seite des Mannes, der das Leben zum letzten Mal mit ihr teilte. Sie flüchtete hinter ihre gläserne Grenze und weigerte sich, mit ihm in dieser letzten Nacht ihren Körper, ihre Wut oder ihren Schmerz zu teilen. In Annaba fragte Massinissa Guermat sie, wie ihr Aufenthalt verlaufen sei und ob es ihrem Vater besser gehe, und sie antwortete, alles sei gut verlaufen, doch während er sie in Richtung der riesigen Schweigewüste des Hotel d’État brachte, kapitulierte sie vor der Welle an Traurigkeit, die sie überschwemmte, und schüttelte den Kopf, nein, es sei nicht alles gut verlaufen und sie habe geglaubt, ihr Vater würde schon sterben, vor ihren Augen, er habe nicht sprechen können, habe sich an ihr Handgelenk geklammert, mit aller Kraft, um nicht eingesogen zu werden vom Treibsand, der ihm bereits in den Mund drang

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