Untergang
und die Luft zum Atmen nahm, und nichts habe sie machen können, denn man ist allein, wenn man stirbt, oh, wie allein man ist, wenn man stirbt, und angesichts dieser Einsamkeit habe sie nur noch fliehen wollen, nichts anderes, sie habe sich gewünscht, dass ihr Vater ihr Handgelenk loslasse, damit sie fliehen könne, und dass er aufhöre, sie zu zwingen, dieser Einsamkeit die Stirn zu bieten, die die Lebenden nicht verstehen könnten, und für einen langen Augenblick habe sie weder Mitleid noch Schmerz empfunden, sondern nur mehr panische Angst, deren Erinnerung ihr jetzt Grauen bereite, und Massinissa sagte zu ihr: »So kann ich dich unmöglich allein lassen«, und sie drehte sich zu ihm um, mit trockener Kehle, plötzlich fiebrig und lebendig, und sagte ohne die Augen zu senken mit gebieterischer Stimme zu ihm: »Dann lass mich nicht allein, nicht allein«, und warf sich ihm um den Hals, ohne nachzudenken, und spürte mit unendlicher Erleichterung, wie Massinissas Arme sich um sie schlossen. Er stand vor Morgengrauen auf, damit auch nicht einer vom Team und niemand der Hotelangestellten ihn auf sein Zimmer gehen sehen würde. Aurélie wartete auf den Tagesanbruch. Sie nahm ein Bad und blieb lange im gelblichen Wasser, ohne an etwas zu denken, dann sprang sie plötzlich auf, um den Mann anzurufen, den sie verlassen würde. Er konnte es nicht fassen, er verlangte Erklärungen, und kriegsmüde und da er eine Erklärung brauchte, teilte Aurélie ihm mit, dass sie jemanden kennengelernt habe, aber diese Eröffnung verlangte neue Erklärungen, wo?, wen?, seit wann?, und Aurélie wiederholte, dass das nichts bringe, da diese Bekanntschaft im Grunde genommen nichts mit dem zu tun habe, was sie soeben tat, er müsse das verstehen, aber er insistierte, und schließlich sagte sie zu ihm: »Gestern Abend, seit gestern Abend.«
Er schwieg nicht, er sprach jetzt schluchzend, warum teile sie ihm dies so rasch mit?, warum habe sie nicht gewartet?, es hätte eine flüchtige Affäre sein können, von der er nichts hätte wissen brauchen, sie könne sich ja gar nicht sicher sein und jetzt sei es nicht wiedergutzumachen, warum gestehe sie ihm etwas, was vielleicht gar keine Bedeutung hatte, warum nur sei sie so grausam? Aurélie dachte, dass sie ihm die Wahrheit schuldig sei.
»Weil es genau das ist, was ich will. Ich will, dass es nicht wiedergutzumachen ist.«
Sie begleiteten Gavina Pintus zwei Stunden vor Morgengrauen zur Finstermette am Gründonnerstag. Sie waren die ganze Nacht in der Bar geblieben, um nicht aufstehen zu müssen, sie hatten sich die Zähne überm Spülstein des Tresens geputzt und kauten nun Kaugummi mit Mentholgeschmack, damit ihr alkoholisierter Atem nicht die Pietät dieser Trauernacht störe. Für Ostermontag hatten sie vorgesehen, vor der Bar ein großes Picknick zu veranstalten, mit Musik, um tags darauf dann aufzubrechen. Libero sollte Matthieu nach Paris begleiten, um seinen Vater zu besuchen, und sie wollten die Gelegenheit nutzen, um in Barcelona einige Tage Urlaub zu machen, sie hatten ein Hotel reserviert, ohne sich lumpen zu lassen, sie konnten es sich erlauben, sie verbanden das Nützliche mit dem Angenehmen, und Jacques Antonetti hätte so auch nicht den Eindruck, sie wollten kommen, um Abschied zu nehmen von einem Sterbenden. In dieser Nacht des Gründonnerstags schritten sie also voran, Gavina Pintus am Arm, sie hielten sich so aufrecht wie möglich, der feuchte Wind fuhr sie eisig an, der Einfluss des Alkohols wurde weniger spürbar, und hinter ihnen gingen Pierre-Emmanuel Colonna und seine Freunde aus Corte, die ihn begleitet hatten, um die Messe zu singen, bevor sie dann mit ihm am Montag das Fest beleben würden, und auch sie versuchten so gut sie konnten unter Zeitdruck auszunüchtern. Die Kirche war voller schläfriger Gläubiger. Der Strom war abgeschaltet worden. Das Licht kam nur von großen brennenden Kerzen vor dem Altar. Der Geruch von Weihrauch erinnerte Matthieu an den von Izaskuns Haut. Er bekreuzigte sich, während er einen säuerlichen Schluckauf unterdrückte. Pierre-Emmanuel und seine Freunde setzten sich in einer Ecke der Apsis hin, den Text mit den Psalmen in ihren Händen. Sie räusperten sich und flüsterten sich etwas ins Ohr, rutschten unruhig auf ihren Bänken hin und her. Der Pfarrer verkündete, dass zum Heil der Welt die Finsternis bald die Welt überziehen werde, die sich anschickte, ihren Erlöser unter Tränen zu Tode zu martern im Garten von Gethsemane. Die
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