Untergang
zu ihm zurückkehren, niemand konnte ihm irgendetwas nehmen, und er labte sich an einem furchtbaren Gefühl der Überlegenheit, als hätte er Höhen erklommen, wo ihm niemand mehr Unrecht zufügen konnte. Er war verblüfft darüber, dass sein Glück so unveränderlich war, und trank seinen Wein in der milden Wärme der Frühlingssonne. Am nächsten Tag machte er sich mit Libero auf. Sie vertrauten die Barschlüssel Bernard Gratas an, sie umarmten die Mädchen und fuhren los nach Ajaccio, sie winkten zum Abschied und riefen: »Seid brav! Ruiniert uns vor allem den Laden nicht! Bis nächste Woche!« Auf dem Weg sprachen sie darüber, was sie in Barcelona treiben würden, sie müssten sich mal entspannen, sie hätten es sich wirklich verdient, und sie kamen eineinhalb Stunden verfrüht am Campo dell’Oro an. Sie setzten sich in die Flughafenbar und tranken ein Bier, dann ein zweites, und ihre Unterhaltung wurde immer schweigsamer. Am Ende schwiegen sie ganz. Die Passagiere für den Flug nach Paris wurden aufgerufen zur Abfertigung, aber es war noch eine halbe Stunde Zeit, es gab keinen Grund zur Eile, und so bestellten sie noch ein letztes Bier. Matthieu schaute zu den Landebahnen, er hatte eine trockene Kehle. Sein Bauch gluckste unangenehm. Ihm wurde plötzlich klar, dass er sich inzwischen seit zehn Monaten nicht mehr weiter als fünfzehn Kilometer vom Dorf entfernt hatte. Ajaccio lag am Ende der Welt. Noch nie war er so lange an einem Ort geblieben. Die Aussicht, nach Paris zu fliegen, erschien ihm plötzlich furchtbar, ganz abgesehen von Barcelona, so fern, dass alle Realität daraus verschwunden war, ein Ort aus Dunst und Sagen, das irdische Gegenstück zum Planeten Mars. Matthieu war sich völlig im Klaren darüber, dass seine Angst grotesk war, aber er war unfähig, gegen sie anzukämpfen. Er blickte zu Libero, der sein Glas mit zusammengebissenen Zähnen anstarrte, und er sah, dass sie die gleiche Angst teilten, sie waren keine Götter, sondern nur Demiurgen, und es war die Welt, die sie erschaffen hatten, die sie nun im Griff der Autorität ihrer tyrannischen Herrschaft hielt, eine eindringliche Stimme verkündete, dass die Passagiere Libero Pintus und Matthieu Antonetti dringend erwartet würden, bevor sich die Türen schlossen, und sie wussten, dass die Welt, die sie erschaffen hatten, sie nicht würde gehen lassen, sie blieben sitzen, und es war dies der letzte Aufruf, und als das Flugzeug abhob, standen sie schweigend auf, nahmen ihre Taschen und kehrten zurück in die Welt, der sie angehörten.
»Wohin wirst Du gehen außerhalb der Welt?«
Es herrscht gleißende Morgendämmerung, deren brutales Licht das Gedächtnis der Menschen blendet, und ihre schmerzhaften Erinnerungen sind dem Schwinden der Finsternis anheimgegeben, die sie in ihrer Auflösung mit sich nimmt. Hoch oben auf der Kuppel der Isaakskathedrale hält Christus Pantokrator in seinen schmalen weißen Händen den Sprengkopf einer Granate, die nicht explodiert ist und in der Luft schwebt wie eine Taubenfeder. Es muss gelebt und so schnell wie möglich vergessen werden, es müssen der Gräber Konturen unscharf wirken dürfen kraft der Macht des Lichtes. Um die Abtei von Monte Cassino entsprießen der Erde plötzlich die geflochtenen Zöpfe der Goumiers wie exotische Blumen, über die eine leichte Sommerbrise zärtlich streicht, entlang der Strände Lettlands haben die grauen Wellen der baltischen See die im Sande verscharrten Kinderknochen poliert, um merkwürdig fossilen Bernsteinschmuck zu fabrizieren, im sonnendurchfluteten Unterholz, aus dem Sulamith nicht zurückkehren wird zum König, der sie vergeblich ruft, tanzt der Blütenstaub ihres aschenen Haars, die aufgrünende Erde hat sich den Magen vollgeschlagen mit in Fetzen gerissener Kleidung und in Fetzen gerissenem Fleisch, sie ist voller Kadaver und ruht in Gänze auf dem Gewölbe ihrer zerbrochenen Schultern, aber die Morgendämmerung hebt an und im Strahl ihres Lichtes sind die vergessenen Kadaver nichts anderes mehr als der fruchtbare Humus der neuen Welt. Wie hätte Marcel die Erinnerung an die Toten bewahren sollen, wo doch diese Welt, nach der langen Austragung des Krieges, zum ersten Mal vor ihm die Fluchtlinien ihrer lichten Wege eröffnete? Alle Überlebenden waren zur mitreißenden Aufgabe des Wiederaufbaus einberufen, und Marcel war einer von ihnen, vom Schwindel ergriffen angesichts unendlicher Möglichkeiten, bereit, den Weg einzuschlagen, mit vom Licht verletzten Augen,
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