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Untergang

Untergang

Titel: Untergang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jérôme Ferrari , Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
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ihr, um seinen Kopf auf ihren Schenkeln auszuruhen und für einen Moment einzuschlafen, befreit von der Hure aus Marseille, denn die Zärtlichkeiten seiner jungen Ehefrau hatten aus seinen Adern die letzten Tropfen Gift herausgesogen, das ihn verseuchte, und vor nichts mehr hatte er nun Angst. Die Körper waren nicht länger mehr Schmelzherde von Eiter, in deren tiefen Gründen unheilvolle, dunkle Dämonen wachten, und Marcel wäre ausnahmslos glücklich gewesen, wenn ihn nicht jedes Mal die Unruhe gepackt hätte, sobald er mit seiner Frau an Bord bei Tisch zu erscheinen hatte, andauernde Angst erfüllte ihn, dass irgendwer ihr eine harmlose Frage stellen würde, auf die sie so dümmlich antwortete, dass sich die ganze Tischrunde in Schweigen hüllte, es sei denn, sie antwortete gar nicht, sondern öffnete nur ihren Mund völlig überrascht, bevor sie ihre Augen dann niederschlug und kicherte, und es war ihm jedes Mal eine Marter, wenn sie in der Öffentlichkeit mit ihm redete, er schämte sich dafür, dass sie ihn auf Korsisch ansprach, dieser lächerliche Dialekt, dessen unerträgliche Klänge er nicht zu verjagen imstande war, und zugleich war er erleichtert, da so niemand verstehen konnte, was sie sagte, und er wartete auf den Moment, da er wieder ihre Kabinentür verschließen konnte für eine Intimität, die allein seinen Groll und seine Pein zu meistern verstand. Er nahm seine Dienststelle als Redakteur in den Büros der zentralen Verwaltung einer großen afrikanischen Stadt an, die eher einer unwahrscheinlichen Anhäufung von Bruchbuden und Straßenschmutz glich als einer Stadt, die er sich hätte erträumen können, denn die Welt hörte nicht auf, seine Träume zu durchkreuzen, sogar noch im Moment selbst, da sie sich anschickten, wahr zu werden. In den Straßen waren die Gerüche derart heftig, dass selbst die reifen Früchte und Blumen die todbringende Lieblichkeit der Verwesung auszudünsten schienen, immer wieder unterdrückte er Schwindelanfälle, als er in seinem neuen Leinenanzug zwischen Menschen und Tieren flanierte, inmitten derer Emanationen exotischen und wilden Fleisches die Lüfte durchströmten, getragen vom Rascheln bunter Stoffe, und es widerte ihn die Nähe der Ureinwohner Tag um Tag mehr an, er war nicht gekommen, ihnen eine Zivilisation zu bringen, die er selbst nur von Ferne und vom Hörensagen in der Stimme seines Schulmeisters kannte, sondern um eine alte Schuld einzutreiben, deren Begleichung so lange immer wieder hinausgeschoben wurde, er war gekommen, um das Leben zu leben, das er verdiente und das nicht aufhörte, sich vor einer Umarmung zu drücken. Er setzte seine Hoffnungen nicht auf Gott, sondern in die Satzungen des Staatsdienstes, deren gute Nachricht allen Kindern der Republik grade erst verkündet worden war und ihm erlaubte, ohne den Umweg über die Bänke der Kolonialschule zu gehen, sich so weit er konnte in der Hierarchie hochzuarbeiten, um sich endlich der Vorhölle zu entwinden, die er durch den Akt der Geburt nicht vollständig hatte verlassen können. Er arbeitete an der Vorbereitung auf die Prüfungen und gleichzeitig darauf hin, sich von den fratzenhaften Stigmata seiner Vergangenheit loszueisen, von seiner Haltung, seiner Gangart und vor allem von seinem Akzent, und er übte sich darin, seine Rede unbetont und flüssig erscheinen zu lassen, als wäre er im Park eines Herrenhauses der Touraine erzogen worden, er gab vor, der Name seiner Familie würde sich mit Betonung auf der letzten Silbe aussprechen, er achtete sorgfältig auf den Verschluss der Vokale, musste sich aber zu seiner Enttäuschung damit bescheiden, das R weiterhin zu rollen, denn er brachte, sobald er versuchte, es guttural auszusprechen, nichts anderes hervor als ein erbärmliches Kratzen der Kehle, gleich dem Schnurren einer Raubkatze oder der heiseren Klage eines Todgeweihten. Jeanne-Marie schrieb ihm, um ihm mitzuteilen, dass André Degorce mit einem Fallschirmregiment nach Indochina abgereist war, sie erzählte von ihren Befürchtungen, vom Glück der Geburt ihrer kleinen Tochter, sie klärte ihn minutiös über den Verfall ihrer Eltern auf, und jeder einzelne ihrer Briefe brachte ihn zurück zur unsühnbaren Sünde seiner Herkunft, auch wenn er sich inzwischen in den Büros ebenso wohlfühlte wie auf den Essen der Verwaltungsattachés, auf die er sich allein begab, aus Angst, die Anwesenheit seiner Ehefrau würde den fragilen Charme zunichtemachen, der ihn seiner selbst entriss, während sie

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