Untergrundkrieg
und Zeitschriften.
Als wir den Sarg nach Nagano brachten, standen schon alle möglichen Fernsehteams bereit. Ich fand das sehr gefühllos. Da zumindest hätten sie uns in Frieden lassen können …
Als ich wieder nach Yokohama kam, kannten mich alle und zeigten, wenn ich über die Straße ging, hinter meinem Rücken mit den Fingern auf mich. »Da, das ist sie. Die von dem Sarin-Anschlag.« Ich hatte das Gefühl, ein Messer im Rücken zu haben. Es war so unerträglich, dass ich umgezogen bin.
Als ich das erste Mal zu einer Anhörung vor Gericht ging, wurde die Zeugenaussage des Mannes aufgenommen, der meinen Mann aus dem Bahnhof gebracht hatte. Auch mehrere Bahnbeamte sagten aus. Der Staatsanwalt fragte mich, ob ich hören wolle, wie mein Mann gestorben ist. Als ich bejahte, wurden mir die Aussagen vorgelesen. Er hat unfassbar leiden müssen. Warum füttern wir diese Bande auch noch durch? Man sollte sie möglichst schnell hinrichten. Meine Meinung dazu wird sich niemals ändern. Diese endlosen Gerichtsverhandlungen gehen mir auf die Nerven. Warum haben diese Leute meinen Mann getötet? Wo soll ich hin mit meinem Leid, wo unsere Zukunft und die unseres Kindes zerstört ist?
Wenn man mich ließe, würde ich Asahara mit meinen eigenen Händen langsam und grausam töten.
Ich will nur die Wahrheit. So schnell wie möglich die Wahrheit.
Nicht einmal die Medien haben darüber berichtet, wie qualvoll die Opfer gestorben sind. Gar nicht. Nach dem Anschlag in Matsumoto ein bisschen, aber im Fall des U-Bahn-Anschlags überhaupt nicht.
Sonderbar. Deswegen denken die meisten Leute wahrscheinlich, die Leute wären einfach tot umgefallen. Auch die ganzen Zeitungen haben sich über dieses Thema ausgeschwiegen. Ich selbst habe erst erfahren, wie sehr mein Mann leiden musste, als der Staatsanwalt mir die Zeugenaussagen vorgelesen hat. Ich will, dass alle erfahren, wie furchtbar es war. Sonst wird am Ende eine Geschichte daraus, die anderen Leuten passiert ist und keinen mehr interessiert. Als Betroffene kann ich das nicht akzeptieren.
Asuka ist meine größte Freude. Sie fängt jetzt gerade an zu sprechen. Durch kleine Gesten oder bestimmte Nahrungsmittel, die sie gern mag, erinnert sie mich an ihren Vater. Ich erzähle ihr oft von ihm, ob sie es versteht, weiß ich allerdings nicht. Manchmal fragt sie: »Wo ist Papa?« Dann zeige ich auf das Foto auf dem Altar. Wenn sie dem Foto Gute Nacht sagt, bevor sie in ihr Bettchen geht, kommen mir jedes Mal die Tränen.
Ich habe noch ein Video von unseren Flitterwochen – wir waren natürlich Skilaufen. Seine Stimme ist darauf zu hören. Wenn Asuka ein bisschen älter ist, werde ich es ihr zeigen. Ich bin so dankbar, dass wir diese Videoaufnahmen gemacht haben, denn ich beginne schon, die Einzelheiten seines Gesichts zu vergessen. Am Anfang konnte ich mich ganz deutlich an jedes Detail erinnern …
Entschuldigen Sie … So ist das eben. Wenn ein Mensch einmal nicht mehr da ist, verblasst allmählich die Erinnerung an seinen Körper.
Ich möchte Asuka an seiner Stelle das Skifahren beibringen. Mein Mann hat immer gesagt, dass er das tun würde. Wir hatten ungefähr die gleiche Größe, also kann ich dazu sogar seinen Skianzug anziehen. Das hätte er sich bestimmt gewünscht.
ZWEITER TEIL
DER VERSPROCHENE ORT
Ein alter Mann, wachend in seinem Tod
Dies ist der Ort, der versprochen wurde,
als ich schlafen ging,
der mir genommen wurde, als ich erwachte.
Dies ist der Ort, jedem unbekannt,
wo Namen von Schiffen und Sternen
außer Reichweite treiben.
Die Berge sind keine Berge mehr;
die Sonne ist nicht die Sonne.
Man vergißt immer mehr, wie es war;
Ich sehe mich selbst, ich sehe
den Glanz der Dunkelheit auf meiner Stirn.
Einst war ich gesund, einst war ich jung …
Als ob es jetzt darauf ankäme
und du mich hören könntest
und das Wetter dieses Ortes je enden würde.
Aus: Mark Strand, Dunkler Hafen , aus dem Amerikanischen von Michael Krüger, Rainer G. Schmidt und Richard Weihe, © Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1997
Vorwort
Als ich 1997 (zwei Jahre nach dem Sarin-Anschlag) die Gespräche für den ersten Teil dieses Buches führte, vermied ich es grundsätzlich, die Medienberichte über Aum Shinrikyo zu verfolgen, denn ich wollte mich so weit wie möglich in die Lage der Opfer an dem bewussten Tag versetzen. Mir vorstellen, wie es ist, im morgendlichen Gedränge eines U-Bahn-Wagens ohne jede Vorwarnung einem Nervengift ausgesetzt zu sein, und welche
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