Untergrundkrieg
Zeit vergehen, denn es gibt Dinge, die nicht so ohne weiteres Gestalt annehmen.
Die folgenden Interviews sind von April bis Oktober 1997 monatlich in Bungei shunju erschienen und wurden als Serie unter dem Titel Post-Underground publiziert.
»Ich bin Aum immer noch verbunden«
Hiroyuki Kano (geboren 1965)
Herr Kano ist zwar in Tokyo geboren, aber seine Eltern zogen bald nach seiner Geburt in eine andere Präfektur, in der er die Kindheit verbrachte. Während seines Studiums litt er unter gesundheitlichen Problemen und nahm an einem von der Aum-Sekte organisierten Yoga-Kurs teil. Nach einundzwanzig Tagen empfahl ihm Shoko Asahara, der Welt zu entsagen, also Aum-Mönch zu werden, was Herr Kano fünf Monate später auch tat.
Zum Zeitpunkt des Sarin-Anschlags gehörte Kano dem Aum-Ministerium für Wissenschaft und Technik an, wo er überwiegend an Computern arbeitete. Die sechs Jahre, die er bis zum Sarin-Anschlag bei Aum verbracht hatte, waren für ihn glücklich und ungetrübt verlaufen; er fand in dieser Zeit viele Freunde.
Bisher ist Herr Kano nicht offiziell aus der Sekte ausgetreten, hat aber seine Beziehungen zu anderen Mitgliedern abgebrochen und hält sich von ihnen fern. Er lebt allein in Tokyo, arbeitet zu Hause am Computer und setzt seine asketischen Übungen fort. Er interessiert sich sehr für den Buddhismus und träumt davon, eine eigene buddhistische Theorie zu entwickeln. Viele seiner Freunde haben die Sekte verlassen. Herr Kano ist erst zweiunddreißig und fragt sich, welchen Weg er in Zukunft einschlagen soll.
Während unseres Gesprächs erwähnte er den Namen Shoko Asahara nicht ein einziges Mal, sondern sprach immer nur von seinem »Meister« oder »Guru«. Einmal sagte er, glaube ich, auch nur »er«.
Als Kind war ich gesund und kräftig. In der Grundschule war ich schon 1,60 groß und damit ungefähr zwanzig Zentimeter größer als alle anderen Kinder. Ich machte gern Sport und begeisterte mich für alles Mögliche. Aber ab der Mittelschule hörte ich auf zu wachsen und bin jetzt etwas kleiner als die meisten. Irgendwie hat sich mein psychischer Zustand offenbar auf meine körperliche Entwicklung und meine Gesundheit ausgewirkt.
Ich war kein schlechter Schüler, aber ich hatte eine große Abneigung gegen das Lernen. Schon in der Mittelschule wusste ich ganz genau, was ich wollte und was nicht. Der Unterrichtsstoff in der Schule gehörte zu der Art von Wissen, die ich nicht wollte … Für mich bedeutete Lernen das Streben nach Erkenntnis, aber in der Schule mussten wir pauken, wie viele Schafe es in Australien gibt und so weiter. Da kann man lernen, so viel man will, mit Weisheit oder Erkenntnis hat das nichts zu tun. In meiner Kindheit hielt ich zum Beispiel Snafkin aus der Muminfamilie für weise. Diese Art von innerer Ruhe, Intelligenz und Weisheit wollte ich mir aneignen. Sie bedeuteten Erwachsensein für mich.
Murakami: Was ist Ihr Vater für ein Mensch?
Eben ein Angestellter. Er hat mit Druckereimaschinen zu tun. Er hat zwar Fingerspitzengefühl, aber reden kann man nicht mit ihm. Er ist Handwerker und ein bisschen ungehobelt. Außerdem jähzornig. Wenn ich mal eine Frage stellte, sah er immer gleich rot. Bei meinen Lehrern war das allerdings auch nicht viel anders. Selbst bei intelligenten Fragen regten sie sich auf, statt etwas zu erklären. Merkwürdig, finden Sie nicht? Damals verstörte es mich sehr, dass Erwachsene in solchen Situationen in Wut gerieten. Zwischen den Erwachsenen, die ich kannte, und der Vorstellung, die ich von einem Erwachsenen hatte, bestand eine tiefe Kluft. Meine Illusionen wurden völlig zerstört. Die Menschen werden zwar älter, entwickeln sich aber als Personen nicht weiter. Ich finde, abgesehen vom Äußeren und gewissen oberflächlichen Kenntnissen besteht fast kein Unterschied zwischen einem Erwachsenen und einem Kind.
Außerdem stellten sich erhebliche Zweifel bei mir ein, was die Liebe angeht. Mit neunzehn grübelte ich viel darüber nach und kam zu folgendem Ergebnis: Die reine Liebe und die romantische Liebe sind zwei völlig verschiedene Dinge. Wenn man eine andere Person aufrichtig liebt, denkt man nicht an den eigenen Vorteil. Bei der romantischen Liebe ist das ganz anders. Dazu gehört, dass man unbedingt von der anderen Person geliebt werden möchte. Wenn man sich damit zufrieden gäbe, einen Menschen rein zu lieben, täte unerwiderte Liebe nicht so weh. Denn eigentlich gäbe es keinen Grund zu leiden, solange die andere Person nicht
Weitere Kostenlose Bücher