Untergrundkrieg
inhaltliche Aussagen nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft und korrigiert, es sei denn, sie widersprachen ganz offenkundig den bekannten Fakten. Darüber mag man geteilter Meinung sein, aber ich habe meine Aufgabe hauptsächlich darin gesehen, meinen Interviewpartnern zuzuhören und das, was sie mir erzählten, in eine möglichst lesbare Form zu bringen. Auch wenn hin und wieder Punkte auftauchen, die nicht der Realität entsprechen, verkörpert diese Sammlung persönlicher Geschichten eine ganz eigene ausdrucksstarke Wirklichkeit. Für mich als Schriftsteller ist gerade dieser Aspekt von höchster Bedeutung, und darin sehe ich in diesem Kontext auch meine Aufgabe.
Ein kleiner Unterschied zwischen den folgenden Interviews und denjenigen des ersten Teils besteht darin, dass ich nun häufiger und ausführlicher meine Ansichten und Zweifel geäußert und mit einzelnen Personen über bestimmte Punkte sogar diskutiert habe. In den Gesprächen mit den Opfern des Anschlags hielt ich mich so weit wie möglich im Hintergrund, während ich es nun vorgezogen habe, etwas präsenter sein; zum Beispiel, wenn ich es als unangemessen empfand, dass ein Gespräch allzu stark um religiöse Fragen kreiste.
Ich bin nur ein schlichter, wenig gebildeter Romancier (und das ist keine falsche Bescheidenheit, wie viele bestätigen werden). Weder bin ich Religionswissenschaftler noch Soziologe. Was Religion betrifft, bin ich sogar ein blutiger Laie und hätte keine Chance, wenn ich mich mit einem gläubigen Menschen auf eine theologische Diskussion einließe. In diesem Punkt hatte ich, als ich mit den Interviews begann, ehrlich gesagt, sogar die schlimmsten Befürchtungen, beschloss aber, mich nicht einschüchtern zu lassen. Wenn ich etwas nicht verstand, sagte ich es geradeheraus. War ich der Ansicht, dass etwas nicht nachvollziehbar war, wies ich meinen Partner darauf hin, dass diese Dinge ihm zwar logisch erscheinen mochten, aber für normale Menschen unzugänglich seien. Ich stellte Rückfragen, statt die Begriffe einfach an mir vorbeirauschen zu lassen und zu nicken.
Auf diese Weise ist uns, wenn vielleicht auch nur auf einer alltäglichen, allgemeinen Ebene, stets ein Austausch von Ansichten gelungen, bei dem ich das Gefühl hatte, die grundlegenden Gedankengänge meiner Gesprächspartner zu verstehen. (Ob ich sie akzeptiere, ist natürlich eine andere Frage.) Für Gespräche der Art, die wir führten, schien mir dieses Verständnis ausreichend. Eine eingehende Analyse der Psyche der Betreffenden, eine Bewertung der logischen und ethischen Berechtigung ihrer Positionen und so fort gehörten dagegen nicht zu den Zielen, die ich mir gesetzt hatte. Eine eingehende Untersuchung der aufgeworfenen religiösen Fragen und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung überlasse ich sicherheitshalber den Fachleuten. Ich wollte vor allem darstellen, wie diese Menschen sich in einer normalen Gesprächssituation verhalten.
Während unserer doch recht vertraulichen Gespräche wurde mir zudem bewusst, dass das Schreiben von Geschichten und eine religiöse Suche zwar nicht das Gleiche sind, jedoch eine gewisse Ähnlichkeit besitzen. Dies erregte einerseits mein Interesse, ließ aber gelegentlich auch so etwas wie Gereiztheit in mir aufsteigen.
Persönlich empfinde ich immer noch einen starken Zorn auf die Mitglieder von Aum Shinrikyo, die an dem Anschlag beteiligt waren (dazu gehören diejenigen, die ihn geplant, ebenso wie diejenigen, die ihn ausgeführt haben). Viele der Opfer, die ich kennen gelernt habe, leiden heute noch unter den Nachwirkungen. Und dann sind da auch diejenigen, denen geliebte Menschen durch den Anschlag für immer geraubt wurden. Diese Eindrücke werde ich nie vergessen. Was immer die Umstände und Motive waren, ein solches Verbrechen kann niemals vergeben werden.
Die Meinungen darüber, inwieweit Aum Shinrikyo als Gemeinschaft insgesamt für den Anschlag verantwortlich war, gehen auseinander. Darüber zu urteilen möchte ich dem Leser überlassen. Ich habe die Interviews nicht geführt, um diese Menschen vorzuführen, anzuklagen oder in einem besseren Licht erscheinen zu lassen. Wie auch im ersten Teil ging es mir nicht darum, einen einzigen klar umrissenen Standpunkt zu präsentieren, sondern Zeugnisse lebendiger Menschen vorzulegen, ein Material, das sich unter einer Vielzahl von Aspekten betrachten lässt.
Bis ich als Schriftsteller dasjenige, was mir davon bleibt, verarbeitet und erzählerisch gestaltet habe, wird noch viel
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