Untergrundkrieg
Der Halbjahresbeitrag belief sich auf 6000 Yen. Außerdem bekam man zehn Kassetten umsonst. Als Initiation mussten neue Mitglieder siebenundneunzig Aum-Videos anschauen und siebenundsiebzig Aum-Bücher lesen. Eine ganze Menge, aber irgendwie habe ich es geschafft. Zum Schluss musste man ein Mantra siebentausendmal rezitieren. Man erhielt den Text auf einem Blatt ausgedruckt und las ihn unablässig laut vor, während man mit einem Zähler mitzählte – alle Aum-Mitglieder haben so einen Zähler. Ich machte das eine Weile mit, aber dann wurde es mir zu blöd, und ich hörte auf. Ist doch auch kein Unterschied zu Soka Gakkai, oder?
Sie drängten mich, die Gelübde abzulegen. Damals war Aum sehr daran interessiert, die Zahl der Mönche und Nonnen zu steigern. Ich war noch nicht vollständig initiiert, aber sie sagten, das mache nichts, ich könne trotzdem sofort der Welt entsagen. Ich weigerte mich, aber Frau Takahashi wurde Ende des Jahres Nonne. Am 20. Dezember rief sie mich bei der Arbeit an und sagte: »Ich mache es.« Das war das letzte Mal, dass ich mit ihr gesprochen habe. Sie legte die Gelübde ab und ging fort, wohin weiß ich nicht.
Als der Sarin-Anschlag verübt wurde, war ich bereits dabei, mich von Aum zu trennen. Es gab da eine Person, die von Frau Takahashi angeworben worden war, und ich versuchte, sie davon abzuhalten, Mitglied zu werden. Alle wussten inzwischen, dass ich den Methoden von Aum kritisch gegenüberstand. Aber Anhänger bleibt Anhänger, und deshalb wurde ich im Mai von der Polizei verhört. Den Behörden waren alle Mitglieder bekannt, wahrscheinlich hatten sie eine Kartei. Ich muss sagen, dass ich die Verhörmethoden ziemlich altertümlich fand. Sie fragten mich allen Ernstes, ob ich imstande sei, auf ein Foto von Shoko Asahara zu treten. Das erinnerte mich an die »Tretbilder« aus der Edo-Zeit, als die Christen gezwungen wurden, auf Bildern von Jesus herumzutrampeln. Trotzdem hat mir die Polizei ganz schön Angst eingejagt.
1995, als in Hokkaido dieses Flugzeug von All Nippon Airways entführt wurde, verhörten sie mich wieder. »Sie wissen doch etwas, stimmt’s?« Ständig rückten sie bei mir an. Ich kam mir schon vor wie eine Frau, die von einem Stalker verfolgt wird. Unter ständiger Beobachtung. Unheimlich. Eigentlich soll die Polizei die Bürger ja beschützen, aber mich versetzte sie in Angst und Schrecken. Obwohl ich gar nichts getan hatte, fürchtete ich die ganze Zeit, verhaftet zu werden. Andauernd wurden Aum-Mitglieder wegen Lappalien oder unter irgendwelchen Vorwänden verhaftet. Bestimmt würde es mir nicht besser ergehen.
Ständig rief einer bei mir an, um zu fragen, ob sich irgendwer von Aum bei mir gemeldet hätte. Ich hätte einfach stillhalten sollen, aber dummerweise war ich so neugierig, was sich bei Aum abspielte, dass ich extra nach Osaka fuhr, um dort im Satyam eine Nonne zu besuchen, die ich persönlich kannte. Ich wollte sie fragen, wie sie diese ganzen Polizeimaßnahmen erlebte. Bei der Gelegenheit kaufte ich mir auch gleich ein paar Ausgaben der Aum-Zeitschrift Anuttara Sacca . Zu der Zeit waren keine Bücher oder Zeitschriften von Aum in den Buchläden zu haben, und ich wollte wissen, was geschrieben wurde. Kaum kam ich aus dem Satyam, sprachen mich auf der Stelle zwei Polizisten an und fragten, was ich dort gemacht hätte. Ich kriegte es mit der Angst, rannte weg und konnte sie irgendwie abschütteln. Danach hatte mich die Polizei natürlich noch mehr im Visier.
Murakami: Haben Sie zu dem Zeitpunkt geglaubt, dass Aum die U-Bahn-Anschläge verübt hat?
Ja, ich hatte keinerlei Zweifel, und trotzdem konnte ich meine Neugier nicht zügeln. Was mich so neugierig machte? Mich interessierte die Kraft und Vitalität, die diese Gemeinschaft immer wieder aufstehen ließ, obwohl sie von der Gesellschaft ständig unterdrückt wurde. Nehmen Sie zum Beispiel ihre Publikationen – sie wurden in keinem Buchladen mehr geführt, und trotzdem veröffentlichten sie einfach weiter. Also, ich wollte unbedingt wissen, was sich hinter den Kulissen bei Aum abspielte. Was dachten die Anhänger wirklich? Die Neugier eines Reporters oder so, auf alles eben, was man aus dem Fernsehen nicht erfahren konnte.
Murakami: Was ist Ihre Meinung zu dem Anschlag?
Völlig indiskutabel. So etwas kann man nicht zulassen. Kein Zweifel möglich. Trotzdem müssen Sie zwischen Asahara und den einfachen Mitgliedern unterscheiden. Nicht alle Mitglieder sind Verbrecher, und einige sind wirklich
Weitere Kostenlose Bücher